"Erschreckend": Immer mehr Fälle von Kindesgefährdung in Bielefeld

Bielefeld. Die Bielefelder Kinderschutzambulanz, zuständig für die akute Hilfe für minderjährige Opfer von sexualisierter Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung, meldet einen deutlichen Anstieg der Fälle in der Stadt. "Erschreckend", heißt es in der aktuellen Mitteilung der Expertinnen. Demnach hätten Leiterin Claudia Friedhoff und ihre Kollegin bis September 2022 bereits fast so viele Fälle zu behandeln wie im gesamten Vorjahr. 2021 mussten sich die Psychologin und ihre Kollegin, eine Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, um 156 Fälle kümmern. Nach dem dritten Quartal in diesem Jahr sind es bereits 140. Sollte dieser Trend auch im vierten Quartal anhalten, ist von einem Anstieg um fast 20 Prozent auszugehen. 2020 lag die Zahl der Fälle noch bei 115 Anfragen pro Jahr. Viele Bielefelder Kinder leiden unter "alltäglichen Horrorerlebnissen" Dabei gehe es gar nicht so sehr um die großen Missbrauchsfälle wie der Komplex Lügde, die in der Öffentlichkeit für sehr viel Aufmerksamkeit sorgen. &bdquo;Wir haben leider mit vielen, ganz alltäglichen Horrorerlebnissen zu tun, die Kinder erleben müssen“, sagt Friedhoff. Die Kinderschutzambulanz ist eine Einrichtung der Uniklinik für Kinder- und Jugendmedizin beim Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB), an die sich jeder wenden kann, der ein Kind gefährdet sieht. Sie gehört zu einem landesweiten Netzwerk, das vor drei Jahren vom NRW-Gesundheitsministerium initiiert wurde. Die gute Nachricht: Auch 2023 unterstützt das Land diese Ambulanzen durch Fördermittel. Weitere finanzielle Unterstützung erhält die Kinderschutzambulanz Bethel von der Stadt Bielefeld und der Rabe-Stiftung. Es fehlt immer noch an Hilfsangeboten in Bielefeld Doch warum registrieren die Expertinnen so viel mehr Fälle? &bdquo;Meine Haupthypothese ist, dass es insgesamt einen sehr großen Bedarf für Hilfe gibt. Und wenn wir deutlich machen, wir können helfen, dann kommen auch immer mehr Anfragen.“ Kurz gesagt: Nicht die Fälle werden unbedingt mehr, es fehlt immer noch an ausreichend Hilfsangeboten für die Wehrlosen. Zu viele Fälle bleiben im Verborgenen, bleiben unaufgeklärt. Zu viele Kinder erhalten demnach auch keine Hilfe. Die Aufgaben der Kinderschutzambulanzen sind vielfältig: Sie leisten Hilfe bei der akuten Krisenintervention, beim Erkennen von allen erdenklichen Fällen von Kindeswohlgefährdung und schließlich auch bei ihrer Diagnostik. Dazu gehören mehrheitlich Fälle sexualisierter Gewalt, aber auch Misshandlung und Vernachlässigung, emotionaler Missbrauch und letztlich auch das Erleben von Häuslicher Gewalt zwischen Eltern und Partnern. Die Ambulanz in Bethel ist auch zuständig für Kinder und Jugendliche mit deutlichen Entwicklungsauffälligkeiten oder Behinderungen. Bielefelder Psychologin benötigt mindestens fünf Sitzungen mit betroffenen Kindern Claudia Friedhoff erklärt: &bdquo;Unsere Arbeit setzt da an, wo es um Hilfen für die Kinder geht.“ In den Sitzungen mit den Kindern geht es darum, Vertrauen aufzubauen, zuzuhören und ihnen das Gefühl zu geben, ehrlich an ihrem Wohlbefinden interessiert zu sein. Oft setzten die Täter ihre Opfer seelisch unter Druck und drohten ihnen mit dem Heim, sollten sie die Wahrheit sagen. Deshalb seien mindestens fünf solcher Sitzungen mit den Kindern nötig, sagt die Psychologin. Bei den Kleineren handele es sich eher um spielerische Kommunikation, keine Gespräche oder Befragungen wie mit Erwachsenen. Mitunter werden diese Sitzungen ergänzt durch medizinische Untersuchungen in der Kindernotaufnahme oder der Gynäkologie. &bdquo;Wir arbeiten reibungslos zusammen. Die Strukturen des Kinderschutzes sind im EvKB gut etabliert“, so Friedhoff. Dazu gehörten auch die Vermittlung weiterer Hilfen und die enge Kooperation mit Jugendhilfe, Beratungsstellen und Kinderarztpraxen. Das liege ihr zufolge an einem bereits vor 30 Jahren gegründeten Sonderbereich &bdquo;Sexualisierte Gewalt“ am Sozialpädiatrischen Zentrum Bethel – quasi der Vorgänger der heutigen Kinderschutzambulanz. 2011 entstand dann die Kinderschutzgruppe, die aus Experten verschiedener Fachrichtungen besteht und unter anderem einen Leitfaden bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung entwickelt hat. Bethel als Vorbild für weitere Kinderschutzambulanzen Eckard Hamelmann, Ärztlicher Direktor im Kinderzentrum Bethel, betont: &bdquo;Kinderschutz ist die aktive Hinwendung für eine hilflose Gruppe. Unsere Kinderschutzambulanz leistet einen wichtigen gesamtgesellschaftlichen Beitrag.“ Claudia Friedhoff hofft daher, dass das Betheler Vorbild Schule macht: &bdquo;Kinderschutzambulanzen muss es an jeder Kinderklinik geben.“ Derzeit fördert das Land NRW 21 solcher Ambulanzen. Neben dem Standort in Bielefeld wurden in OWL noch vergleichbare Einrichtungen in Paderborn und Detmold aufgebaut. Kontakt und weitere Informationen zum Kinderschutzzentrum Bethel.

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