Mindestens 28 Opfer in Klinik - Minister greift in Vergewaltigungsfall ein

Bielefeld. Die Überraschung war groß, als es am Mittwoch hieß: Das Justizministerium hat die Wiederaufnahme des Vergewaltigungsfalls von Bethel verfügt. Erst im August hatte die Oberstaatsanwaltschaft Hamm die Einstellung der Ermittlungen gegen die Vorgesetzten des Beschuldigten, Philipp G. (32), bestätigt. Doch nun hat das Ministerium den Fall &bdquo;im Rahmen der Dienst- und Fachaufsicht geprüft“ und neu vergeben an die Staatsanwaltschaft Duisburg. Das Geschehen wird damit sowohl der Bielefelder Behörde als auch der Oberbehörde in Hamm entzogen. Ein Vertrauensentzug? Auf jeden Fall ist so ein Vorgang sehr selten. Wer ist beschuldigt? Um den mutmaßlichen Täter der Vergewaltigungsserie geht es dabei längst nicht mehr. G. soll mehr als 80 Frauen betäubt und sich anschließend an ihnen vergangen haben. Die genaue Opferzahl lässt sich den Akten bis heute nicht entnehmen, weil die Auswertung der Beweisvideos nicht abgeschlossen war, als sich der Beschuldigte tötete und das Verfahren eingestellt werden musste. Neue Ermittlungen Unklar ist, was nun das Ministerium zu der Wiederaufnahme bewogen hat. Ermittelt wird gegen die Leitung des Evangelischen Klinikums Bethel (EvKB), den Chefarzt der Station und einen Oberarzt. Sie sollen Hinweise der betäubten Frauen nicht ausreichend geprüft und damit &bdquo;die Begehung weiterer Taten ermöglicht haben“, so das Ministerium. Der Vorwurf: &bdquo;Beihilfe zur Vergewaltigung durch Unterlassen.“ &bdquo;Politische Entscheidung“ Alle am Verfahren Beteiligten zeigen sich über die neue Bewegung in dem Fall überrascht. Rechtsanwalt Georg Schulze, Verteidiger des Chefarztes, zweifelt: &bdquo;Das ist aus meiner Sicht eine rein politische Entscheidung. Man will sich nicht vorwerfen lassen, Dinge versäumt zu haben.“ Im Rechtsausschuss des Landtags musste die Justiz zuletzt Auskunft darüber geben, ob die Opferschutzbeauftragte in dem Fall eingebunden worden sei. Was nicht geschah. Chance für die Opfer Stefanie Höke, Anwältin einer gleich zweifach von G. vergewaltigten Patientin, ist erfreut: &bdquo;Durch die Wiederaufnahme besteht die Möglichkeit, dass nun doch noch alle Frauen informiert und befragt werden können“. Damit werde endlich dem Opferschutz Genüge getan. Polizeiakte für auch sechs Opfer aus dem privaten Umfeld Denn nach dem Suizid des Inhaftierten musste die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen am 25. September 2020 einstellen. Bis dahin wurden laut Auskunft an den Rechtsausschuss 28 Opfer von sexuellen Übergriffen in Krankenzimmern und sechs aus dem privaten Umfeld des Täters identifiziert. Zusätzliche unvollständige Akten geben Anlass zu der Annahme, dass noch weitere Opfer durch die Auswertung der Beweisvideos zutage kommen würden. Eine genaue Opferzahl gäben die Akten nicht her, heißt es in der Auskunft an den Rechtsausschuss. Viele Frauen ahnungslos Die Staatsanwaltschaft stand damals vor der eher ethischen Entscheidung, ob sie alle Opfer über die Taten informieren soll oder nicht. Weil man eine Traumatisierung der ahnungslosen Frauen befürchtete, verzichtete die Behörde darauf. Nur sechs Frauen wurden bisher informiert, nachdem sie selbst den Verdacht geäußert hatten, Opfer von Philipp G. geworden zu sein. Die Kritik Opferschützer sagen, dass die Behörde die Frauen damit unzulässigerweise bevormunde. Therapeutinnen reagieren entsetzt, weil sich der Körper auch an Taten erinnere, wenn das Bewusstsein durch Narkose abgeschaltet wurde. Diese Frauen litten dann an unerklärlichen Symptomen. Nur was aufgedeckt ist, könne behandelt werden, hieß es. Geschlechtskrankheiten Aber auch Juristen äußerten Kritik. Ohne Befragung der übrigen Opfer lasse sich nicht ermitteln, ob, und wenn ja, wie viele weitere Hinweise es auf G. gab. Zumal der 32-Jährige an Geschlechtskrankheiten litt und anzunehmen ist, dass Opfer angesteckt wurden. Nach unbestätigten Informationen soll die Kripo später zumindest die Opfer der schweren Übergriffe über die Taten informiert haben. Die Chronologie 2016: Die Staatsanwaltschaft Krefeld ermittelt gegen G. wegen Betäubung und Vergewaltigung einer schwangeren Klinikpatientin im Kreis Viersen. Weil sie Erinnerungslücken hat und die DNA des Beschuldigten am Gesicht der Patientin auch von einer medizinischen Behandlung rühren könnte, werden die Ermittlungen im Oktober eingestellt. Februar 2018: G. beginnt als Assistenzarzt im EvKB. In Personalakte und Führungszeugnis finden sich keine Hinweise auf die Ermittlungen. Februar 2019: Spätestens im Februar 2019 beginnt die Vergewaltigungsserie. Das Opfer von damals wird erst viel später von der Tat erfahren. Juli 2019: Eine Patientin (36) beschwert sich über G., weil er ihr mitten in der Nacht Flüssigkeit über einen Zugang verabreicht. Sie wird sofort ohnmächtig. Morgens findet sie in ihrem Bett ein Fläschchen des Narkosemittels Propofol. Beweisstück und Beschwerde verschwinden irgendwo innerhalb der Station. Ein offizieller Beschwerdevorgang, der dem Chefarzt vorgelegt werden muss, wird nicht daraus. August 2019: Eine andere Patientin spricht den Chefarzt an und fragt nach dem wohltuenden Schmerzmittel, dass G. ihr nachts gegeben habe. In der Akte findet sich kein Eintrag, der Chefarzt soll sie daraufhin abgewimmelt haben. Zwei Tage später soll in die Akte das Schmerzmittel Paracetamol nachgetragen worden sein. 3. September 2019: Die Patientin aus dem Juli kehrt auf die Station zurück. Wieder gibt ihr G. eine Flüssigkeit fürs MRT. Auch ihre Bettnachbarin wird von ihm in dieser Nacht betäubt. Am nächsten Tag nimmt man die Beschwerden der Frauen ernst. Doch ihre Blutuntersuchungen bleiben unauffällig. Das flüchtige Narkosemittel ist 18 Stunden nach der Tat nicht mehr nachweisbar. Die Verantwortlichen sprechen von einem Kollaps, weil die verabreichte Kochsalzlösung nicht richtig temperiert war. Die 36-Jährige entlässt sich selbst und erstattet bei der Polizei Anzeige wegen Körperverletzung. Es ist der Beginn der Ermittlungen - zunächst wegen missbräuchlicher Medikamentenabgabe. Dezember 2019: Nach Recherchen des ARD-Magazins Kontraste-Magazins Kontraste weisen nun auch Pflegekräfte auf das zweifelhafte Verhalten des jungen Arztes hin. Ob das für G. Konsequenzen hatte, ist zunächst unklar. 21.Januar 2020: Nach einer vierten Patienten-Beschwerde untersagt der Chefarzt in einem Krisengesräch mit zwei weiteren Vorgesetzten dem 32-Jährigen den Einsatz von Narkosemitteln. Nur G. soll in der Klinik Propofol benutzen. Damals war der Klinik bekannt, dass G. Propofol zur Sedierung vor CT-Diagnosen einsetzte. &bdquo;Eine Vorgehensweise, die nicht den klinikinternen Standards entsprach“, heißt es in der Rechtsausschuss-Auskunft. Außerdem darf er nicht mehr ohne Begleitung von Pflegekräften zu den Patientinnen. März 2020: Der Sachbearbeiter der Kripo soll nach der Anzeige im September erst jetzt den Namen des Beschuldigten ins Polizeisystem eingegeben haben. Hier taucht nun das Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer Vergewaltigung einer sedierten Patientin von 2016 auf. Nach Aussage der Staatsanwaltschaft war der Kripo-Beamte zuvor mit Mordermittlungen betraut. Er sei nicht vorher dazu gekommen. Opferanwälte sprechen von einem Versagen der Kripoermittlungen. April 2020: G. ignoriert die Anweisungen des Chefarztes vom Januar völlig. Er macht bis April 2020 weiter. Eine Patientin im EvKB soll im April als letztes bis jetzt identifiziertes Opfer der Vergewaltigungsserie gelten. April 2020: Nun kommt Bewegung in die Ermittlungen. Die Kripo durchsucht die Klinik und die Wohnung von Philipp G. In seinem WG-Zimmer finden sich zahlreiche Betäubungs- und Narkosemittel. Die Kripo stellt auch mehrere verschlüsselte Datenträger sicher. Nun stellt die Klinik den Beschuldigten vom Dienst frei. Später kündigt er selbst. Trotzdem: Zu diesem Zeitpunkt ist von Sexualstraftaten immer noch nicht die Rede. 21. September 2020: Kripo-Experten entschlüsseln endlich die Dateien des Arztes und finden darunter zahlreiche selbstgefilmte Videos, die die Vergewaltigung betäubter Frauen zeigen. Außerdem wird eine Liste mit Opfernamen sichergestellt. Alle in der Chronologie erwähnten Patientinnen wurden nachweislich von G. vergewaltigt. Noch am selben Tag wird Philipp G. festgenommen. Am 22. September wird dem Beschuldigten der Haftbefehl verkündet. Anschließend wird erstmals die Öffentlichkeit über den Fall informiert. 24. September 2020: Der Beschuldigte nimmt sich in seiner Zelle das Leben. Das Ermittlungsverfahren muss daraufhin eingestellteingestellteingestellt werden. Frauen, die befürchten, Opfer der Vergewaltigungen zu sein, dürfen sich weiterhin bei den Ermittlungsbehörden melden. Oktober 2020: Zwei Opfer zeigen die Vorgesetzten des Assistenzarztes wegen Beihilfe zur Vergewaltigung durch Unterlassen an. Die Staatsanwaltschaft bejaht den Anfangsverdacht gegen drei Vorgesetzte des 32-Jährigen und startet Ermittlungen. November 2020: Der Obduktionsbericht des Beschuldigten liegt nun vor. Die Ermittlungsbehörden erfahren spätestens jetzt, dass Philipp G. drei ansteckende Geschlechtskrankheiten hatte. Frühjahr 2021: Die Anwälte der betroffenen Frauen fordern wiederholt, dass man alle identifizierten Opfer über die Taten informieren müsse. Allein wegen der Geschlechtskrankheiten, die weitreichende körperliche Folgen haben könnten. Aber auch wegen psychischer Trauma-Reaktionen, die die Betroffenen zwar zeigen, aufgrund ihrer Narkotisierung während der Tat aber nicht erklären können. Mai 2021: Nach ausführlichen Ermittlungen wird das Verfahren gegen die Klinik-Leitung, den Chefarzt und einen Oberarzt von der Staatsanwaltschaft Bielefeld eingestellt. August 2021: Die Einstellungsentscheidung aus Bielefeld wird von der Generalstaatsanwaltschaft Hamm bestätigt. Zwei Opfer hatten gegen die Einstellung Beschwerde eingereicht. November 2021: Das Justizministerium NRW beauftragt eine Ermittlungsgruppe mit vier Staatsanwälten der Behörde in Duisburg und unter Einbindung der NRW-Opferschutzbeauftragten mit der Wiederaufnahme des Verfahrens. Zum Thema: Hier finden sich alle Berichte zudem Fall.

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