„Oft ist es nicht der Sterbende selbst, der die meisten Schmerzen hat“

&bdquo;Leben! Bis zum Schluss" lautet der Titel des Fach- und Informationstags der Hospiz- und Palliativarbeit in Bielefeld, der am 1. Oktober im Neuen Rathaus stattfindet. Das ist gar nicht immer so einfach, oder? Hermann Niedergassel: Palliativcare – wir verwenden diese Bezeichnung lieber als Palliativmedizin, da hier die umfassende Sorge für die Patienten besser zum Ausdruck kommt – setzt bei der Lebensqualität an. Auch aufgrund der rasanten technischen Entwicklung steht oft die Quantität bei Lebenszeit und Behandlung im Fokus. Unser Blick ist ganzheitlich, wir gucken auf körperliche und seelische Schmerzen und Leid, die Ängste und auch die Trauer über den Verlust der noch ausstehenden Lebenszeit. Und wägen ganz ehrlich und realistisch Nutzen und Schaden, Gewinn und Belastung der Behandlungsmöglichkeiten ab. Da gibt es durchaus ab und an Konflikte mit behandelnden Kollegen, die nicht so bewusst das Sterben und den Tod im Blick haben, sondern sich eher weiterhin auf die Behandlung der Ursachen konzentrieren. Unser Ziel ist es, den Patienten zu ermöglichen, in Würde zu Hause zu sterben. Das wünschen sich die allermeisten. In diesem Punkt hat das Palliativnetz in Bielefeld schon eine ganze Menge erreicht. Dennis Kuchenbecker: Definitiv, allein wenn man die Zahlen betrachtet. Ende der 1980er Jahre sind etwa 80 Prozent der Menschen im Krankenhaus gestorben, heute sind das hier bei uns in Bielefeld noch nicht einmal 7 Prozent. 80 Prozent sterben zu Hause, wobei wir dazu auch die Pflegeheime zählen. Wir begleiten, lindern und entlasten, damit Angehörige sich das überhaupt auch zutrauen. Im Netzwerk ist rund um die Uhr jemand zu erreichen, wenn die Symptomlage eskaliert. Früher haben da die Angehörigen immer die 112 angerufen und der Patient kam ins Krankenhaus. Hilfreich ist es auch, gut auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, über mögliche Komplikationen, wie beispielsweise Krampfanfälle, zu sprechen. So können Angehörige sicherer und gestärkter mit der Situation umgehen. &bdquo;Haben“ ist da besser als &bdquo;brauchen“. Wir als Koordinatoren verschaffen uns grundsätzlich beim Hausbesuch einen Überblick über die Situation. Dann beurteilen wir, welche Netzwerkpartner wir mit ins Boot holen und beraten darüber, was alles möglich ist, wie zum Beispiel Nachtwachen am Krankenbett. Kann jeder die Hilfe Ihres Netzwerks in Anspruch nehmen? Kuchenbecker: Vom Ablauf her ist es so, dass die Hausärzte die Patienten bei uns anmelden. Die Patienten müssen natürlich zustimmen. Auch mit den Pflegediensten arbeiten wir ganz eng zusammen und unterstützen uns gegenseitig. Grundsätzlich hat seit einigen Jahren jeder das Recht auf Palliativversorgung, das ist gesetzlich verankert. Die Kosten tragen die Krankenkassen. Das Bielefelder Modell, das die Bedeutung der Betreuung durch den Hausarzt oder die Hausärztin in der Häuslichkeit am Lebensende unterstreicht, hat bundesweit große Beachtung gefunden. Allerdings werden Hausärzte gerade ja leider immer weniger, Praxen geschlossen. Fangen Sie da auf, was dort auch aus Kapazitätsgründen nicht geleistet werden kann? Niedergassel: Auch wir spüren die Personalknappheit. Nicht jeder ist für Palliativversorgung ausgebildet – und auch geeignet. Man muss Verläufe aushalten können. Oft ist es auch nicht der Sterbende selbst, der die meisten Schmerzen hat. Was uns auszeichnet ist, dass wir sehr breit aufgestellt sind und das Netzwerk durch große Loyalität geprägt ist, Ärzte, Pflegekräfte, Ehrenamtliche, Patienten und Angehörige sich auf Augenhöhe begegnen. Die Pflege ist in der Palliativversorgung oft viel dichter dran – und viel bedeutsamer. Empathie ist wichtig, ebenso Professionalität und Abstand, um beispielsweise beurteilen zu können, ob der Patient Schmerzen hat oder vielmehr Angst. Da spielt auch die Intuition eine Rolle. Zudem ist für uns der Wille des Patienten ganz wichtig. &bdquo;Herr Doktor, ich hatte noch so viel vor. Und jetzt?“, lautet der Titel Ihres Vortrags beim Infotag. Für jüngere Menschen ist es besonders hart, zu akzeptieren, dass sie – oft absolut unerwartet – so früh sterben müssen. Was hilft da? Niedergassel: Die große Frage ist dann: Wie gehe ich damit um? Was trägt mich? Was kann helfen? Dem Patienten, und auch den Angehörigen. Oft ist es nur, einfach da zu sein – bis zum Schluss. Da spielen auch die Ehrenamtlichen eine große Rolle. Auch Medikamente, speziell Morphine, helfen. Sie wirken sehr entspannend und helfen auch, gering dosiert, bei Luftnot. Möglichst wenig, war noch bis vor einiger Zeit da die Devise. Das hat sich geändert. Man kann dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben: Das ist unsere Mission. Was da die Qualität ausmacht, kann sehr unterschiedlich sein. Bei Hausbesuchen ist es immer schön, zu sehen, wenn das Pflegebett mitten im Wohnzimmer steht, der Patient so bis zum Schluss mitten im Leben und noch dabei ist. Kuchenbecker: Man wird sich bei unserer Arbeit auch der eigenen Endlichkeit bewusst, ist dankbar für jeden Tag und verschiebt Herzenswünsche nicht auf irgendwann. Sie könne in Frieden gehen, sei mit sich im Reinen, denn sie habe immer das gemacht, was ihr wichtig war: Die Worte einer Freundin, die im Alter von 32 Jahren sterben musste, haben mich sehr berührt. Tod und Sterben als Teil des Lebens zu akzeptieren, ist wichtig. Drüber zu sprechen, nimmt dem Thema den Schrecken. Und zu erlauben, auch dort zu sterben, wo gelebt wird. Die Experten und das Netzwerk: Hermann Niedergassel (75) ist Arzt für Innere Medizin und Palliativmedizin. Seine Praxis führt sein Sohn Tim Niedergassel heute als MVZ Medicum Brake. Hermann Niedergassel arbeitet dort neben seiner Tätigkeit beim Palliativnetz noch freiberuflich. 2008 hat er den Verein mit gegründet. Dennis Kuchenbecker (40) ist gelernter Krankenpfleger mit Zusatzqualifikation in der Palliativversorgung. Als Leitender Koordinator des Palliativmedizinischen Konsiliardienstes Bielefeld, einem Kooperationspartner des Netzwerks, organisiert er die Hausbesuche bei den jährlich rund eintausend neuen Patienten, die das Angebot nutzen. Ziel des Palliativnetzes ist es, schwerkranken und sterbenden Menschen in Bielefeld und ihren Angehörigen gebündelt ein Höchstmaß an Kompetenz und interdisziplinärer Zusammenarbeit und Kommunikation anzubieten und dabei alle an der Versorgung Beteiligten einzubinden: alle Bielefelder Krankenhäuser, Pflegeheime, ambulante und palliativmedizinisch qualifizierte Pflegedienste, ambulante Hospizdienste, das stationäres Hospiz &bdquo;Haus Zuversicht“, Ärzte und qualifizierte Palliativmediziner. Weitere Infos zum Netzwerk, den Beteiligten und zum Fach- und Informationstag am 1. Oktober von 10 bis 14 Uhr im Neuen Rathaus, unter www.palliativnetz-bielefeld.de

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