Spurensuche: Wo sind die ganzen Arbeitskräfte in Bielefeld geblieben?

Bielefeld. Bisherige Gewissheiten lösen sich in zahlreichen Lebensbereichen gerade auf, so auch auf dem Arbeitsmarkt. Üblich war es über Jahrzehnte, dass Arbeitgeber sich ihr Personal aussuchen konnten, Arbeitnehmer eher in der defensiven Rolle waren, auf einen Job hoffend. Inzwischen dreht sich das, und zwar mit Tempo. Der Personalmangel an Flughäfen ist bekannt, ebenso in Bädern oder Kinos in Bielefeld, in Gastronomie und Handel. Wo sind die Menschen geblieben, die einst diese Stellen belegt haben? Eine Spurensuche. Janine Billerbeck von der Agentur für Arbeit in Bielefeld lacht auf, als sie die Frage danach, wo die "verschwundenen" Arbeitnehmern seien, hört. Ihre Behörde versucht selbst herauszufinden, was vor sich geht. Wie die früheren Mitarbeiter aus der Gastronomie zum Beispiel heute ihr Geld verdienen, ist bei der Agentur auch unbekannt. Fakt sei generell, sagt Billerbeck, dass "Passungsprobleme" dafür sorgen, dass es auf der einen Seite zahlreiche freie Stellen gebe, auf der anderen immer noch reichlich Arbeitslose; in Bielefeld sind es rund 14.000 bei einer Quote um die 7,5 Prozent. "Die Menschen müssen das auch wollen" Passungsprobleme bedeuten: Ein arbeitsloser Industriekaufmann kann nicht einfach in der Sicherheitsbranche anfangen, ein Ungelernter eine Fachkraft ersetzen oder ein beschäftigungsloser Akademiker zum Kellner werden. "Wir bieten Umschulungen an, aber die Menschen müssen das auch wollen", sagt Billerbeck. Wenn nicht, passt es eben nicht. Für die Arbeitsagentur ist das größte Problem der Fachkräftemangel. Billerbeck erklärt das anhand eines Handwerkerbetriebs: "Ein Fliesenlegermeister fand lange Zeit keinen ausgebildeten Fliesenleger. Da aber auf jeder Baustelle eine Fachkraft dabei sein muss, konnte er lange nur eine Baustelle bedienen und hatte deswegen weniger Umsatz und keine Beschäftigung für seine Hilfskräfte. Er war glücklich, als wir für ihn einen Fliesenleger gefunden haben." Mehr als 4.800 freie Stellen in Bielefeld sind an der Werner-Bock-Straße registriert. Der Einzelhandel sucht fast 200 ausgebildete Mitarbeiter, die Gastronomie mehr als 120, das Baugewerbe gut 220, der Großhandel 140, für Verwaltung und Buchhaltung werden fast 330 Gelernte gesucht, im Gesundheitswesen 200, in der Altenpflege mehr als 100... Die Liste erstreckt sich über zahlreiche weitere Branchen. Auf der anderen Seite werden beim Jobcenter rund 37.000 Menschen mit Geld versorgt, davon sind 25.000 im erwerbsfähigen Alter. Warum können die nicht wenigstes die freien Stellen für Ungelernte besetzen? Rainer Radloff, Geschäftsführer der Behörde mit seinen gut 530 Mitarbeitern erklärt es so: "60 Prozent unserer Kunden sind nicht auf dem Arbeitsmarkt orientiert". Das bedeutet: Sie sind (noch) nicht vermittelbar. Sie müssen erst fit gemacht werden für einen Beruf. "Wir müssen die Menschen erst einmal stabilisieren" Die Jobcenter-Mitarbeiter sind eher Sozialmanager als Arbeitsvermittler. Ein Beispiel aus dem Leben ihrer Arbeit: Eine Frau aus einer arabischen Migrantenfamilie möchte arbeiten gehen, hat sich 20 Jahre um die Kinder gekümmert, spricht kaum Deutsch und wird von ihrem Mann argwöhnisch kontrolliert und gebremst. Solche kulturellen Barrieren und Sprachprobleme sind relevante Hindernisse bei der Vermittlung, andere sind Krankheiten, Suchtprobleme, psychische Schwierigkeiten, Trauma, Schulden oder soziale Schieflagen. "Wir müssen erst einmal an die Menschen heran kommen und sie stabilisieren", sagt Radloff. Nach der Sozialarbeit gilt es für ihn und sein Team, den Kunden Bildung zu vermitteln. "70 Prozent von ihnen haben keine abgeschlossene Ausbildung", sagt der Geschäftsführer. Zusammen mit den anderen Faktoren kommt es zu den besagten "Passungsproblemen" und damit zu Arbeitslosen trotz offener Stellen. Und die einstigen Mitarbeiter der Dienstleistungsbetriebe, wo sind die nun? Sie haben vermutlich andere, bessere Jobs gefunden. Denn wegen des allgemeinen Personalmangels ist das leicht. "Es ist nicht mehr so, dass die Suchenden Schlange stehen. Das haben manche Arbeitgeber noch nicht begriffen", sagt Janine Billerbeck von der Arbeitsagentur. Diese Entwicklung stehe erst am Anfang, da die geburtenstarken Jahrgänge von Mitte der 1950-er bis Mitte der 1960er Jahre auf die Rente zusteuern. "In den kommenden zehn Jahren scheiden bis zu 25 Prozent der Arbeitnehmer aus dem Berufsleben aus", hat Billerbeck nachgerechnet. Dieser Fachkräfteverlust wird eine andere Dimension haben als der heutige.

Meistgelesen