Geschäftsführung schlägt Alarm: Bielefelder Tierklinik vor dem Kollaps

Bielefeld. Die Lage ist gelinde gesagt ernst: Eine ganze Branche ist sehenden Auges in die Krise marschiert - und jetzt kommt der Aufschrei. Yvonne Welpmann, Geschäftsführerin der Bielefelder Tierklinik, schlägt Alarm. Mit drastischen Worten. Eine Tierklinik nach der anderen streicht die Segel. Allein in Nordrhein-Westfalen haben in den vergangenen drei Jahren 12 von 25 Tierkliniken ihren Klinikstatus aufgegeben. Das befreit fast die Hälfte der Häuser von den 24-Stunden-Notdiensten. Und die Einschläge rücken näher: Zuletzt hat nun die Tierklinik in Ahlen den Notdienst quittiert. Zu viele Patienten, zu wenig Personal, es geht einfach nicht mehr. Und auch die Tierklinik in Bielefeld ist am Rand der Belastungsgrenze angelangt. "Bielefeld kann nicht mehr", sagt Yvonne Welpmann. "Der einzige Grund, warum wir noch nicht aufgeben, ist die gefühlte ethische Verpflichtung, die Notfälle nicht allein zu lassen. Wir versuchen und planen hin und her, werden aber mit Fällen im Notdienst überrannt, die nicht hierher gehören." Die Kollegen seien alle kurz vor dem Burnout. Im Jahr 2016 wurde laut der Bundestierärztekammer eine Online-Umfrage zur Suizidgefährdung unter Tierärzten durchgeführt. Die Ergebnisse: bedenklich. Suizidgedanken traten bei 19 Prozent der Befragten auf. Bei der Allgemeinbevölkerung lag der Wert mit 5,7 Prozent deutlich darunter. "Bielefeld kann nicht mehr" Es gebe so viele Probleme, die seit Jahren bekannt seien: Es fehle der Nachwuchs, weil junge Tierärzte seltener Nachtdienste übernehmen möchten, Tierbesitzer würden immer öfter ungehalten und zudem habe durch Corona die Zahl der Haustiere um rund ein Drittel zugenommen, berichtet der mdr. Außerdem würden nachts oder am Wochenende immer mehr Tiere gebracht, die keine Notfälle sind. Diese könnten eigentlich auch von den niedergelassenen Haus-Tierärzten behandelt werden. Doch auch in Bielefeld seien immer weniger Praxen bereit auszuhelfen. Die Tierbesitzer kämen mit einer unerfüllbaren Anspruchshaltung, "sie wollen nachts um 2 Uhr den Neurologen, den Bildgeber und den Neurochirurgen bei Fuß stehen haben". Viele hätten ein völlig falsches Bild davon, wofür der Notdienst da ist, und warum die Kliniken kollabieren, sagt Yvonne Welpmann. "Wir in Bielefeld suchen inständig nach einer Lösung, und wir werden auch nicht morgen den Notdienst aufgeben - aber ich kann nicht garantieren, dass ich das in zwei Monaten auch noch sage." Klinikintern habe man nun entschieden, den Notdienst bis zum 30. September aufrecht zu erhalten. "Dann sehen wir weiter." Welpmann würde sich von der Tierärztekammer aktivere Unterstützung wünschen. Sollte Bielefeld aufgeben, seien da noch eine Klinik in Posthausen in Richtung Norden und Recklinghausen in Richtung Süden. Wobei damit zu rechnen sei, dass Recklinghausen nur Tage oder wenige Wochen nach Bielefeld ebenfalls die Reißleine ziehen würde. "Die ringen genauso um Luft wie wir." Drastische Folgen für die Tierhalter Was das für die Tierhalter bedeutet, ist klar: Die gewohnten Versorgungsstrukturen brechen weg, die Klinik um die Ecke ist nachts oder am Wochenende nicht mehr verfügbar. Wenn ein Tier um sein Leben ringt, kann die stundenlange Fahrzeit zur nächsten Klinik das Todesurteil sein. "Eine Katastrophe." Das System kollabiere. Wie genau ist es deutschlandweit zu dieser dramatischen Lage gekommen? Ralph Rückert, Tierarzt aus Ulm, erklärt das in seinem Blog: "Schauen wir uns den Status quo ante an, den Zustand vor Beginn der Umwälzungen, dann sehen wir eine für die Tierbesitzer annähernd ideale Situation", heißt es da. Jedes Jahr wetteiferten Tausende Abiturienten um etwa 1.000 Plätze im Studienfach Tiermedizin. Wer das Studium erfolgreich absolviert hatte, wetteiferte dann weiter: um Arbeitsplätze. "Viele waren bereit, für Hungerlöhne unter meist brutalsten Bedingungen zu arbeiten, für Gehälter weit unter dem Mindestlohnniveau." Niedrige Personalkosten ermöglichten ein künstliches Niedrighalten der den Tierbesitzern in Rechnung gestellten Gebühren. "Entgegen des lautstarken und allgegenwärtigen Gejammers über die Höhe von Tierarztrechnungen war und ist Deutschland ein tiermedizinisches Billigland. Zu viele Praxen und Kliniken trugen ihre Konkurrenzkämpfe durch gegenseitiges Unterbieten, durch Gebührendumping aus." Lange habe sich an den Bedingungen nichts geändert und "wir alle hatten uns völlig daran gewöhnt". Und nun fliege allen "die ganze Chose um die Ohren". Warum? 1. Immer mehr Frauen streben den Berufsstand an und fordern familientaugliche Arbeitszeiten. Der Trend: Der Nachwuchs ist nicht mehr bereit, zu den schlechten Bedingungen zu arbeiten. Die wenigsten akzeptierten 60-Stunden-Wochen, woraus sich rechnerisch ein Arbeitskräftemangel ergibt. 2. Die Gewerbeaufsichtsämter schauen genauer auf das Arbeitszeitgesetz. "Damit waren dann auch die jungen Kolleginnen und Kollegen aus dem Spiel, die bis dahin immer noch bereit oder gezwungen waren, sich einen Wolf zu arbeiten." Arbeitgebern sei so erst deutlich geworden, was Angestellte mit vernünftiger Entlohnung und gesetzeskonformen Arbeitszeiten wirklich kosten. Und damit kam die Erkenntnis, dass das "Billig-Gebührenmodell" der letzten Jahrzehnte nicht aufrecht gehalten werden könne. "Ein sich langsam bewegender Tsunami" Tierärzte haben ihre Leistungen im Rahmen der Gebührenordnung lange zwischen dem 1,0-fachen Mindestsatz und dem 3,0-fachen Höchstsatz abgerechnet. Wobei im Schnitt nach dem 1,3-fachen Satz berechnet wurde. Bei Nacht und am Wochenende höchstens mit dem 2,0-fachen Satz. "Betriebswirtschaftlich sinnvoll für eine Tierklinik, die eine 24-Stunden-Dienstbereitschaft an 365 Tagen anbieten will, ist der 5,0-fache Satz." Inzwischen ist es erlaubt, den 4-fachen, ab Oktober, den 6-fachen Satz abzurechnen. Die Folge: Ein drastischer Umbruch. "Von der oft geforderten guten und billigen Tiermedizin können sich die Tierbesitzer wohl verabschieden." Ein Problem nicht nur in Deutschland: &bdquo;Es ist ein sich langsam bewegender Tsunami“, berichtet Liz Hughston, US-amerikanische Veterinärtechnikerin und Präsidentin der National Veterinary Professionals Union, in der US-Zeitschrift The Atlantic. "Das wahre Ausmaß der Personalkrise ist bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu spüren gewesen, weil es ausreichend junge, eifrige, idealistische Menschen gab, die parat standen, wenn andere entnervt aufgaben - ohne allzu genau aufs Geld zu schauen", berichtet auch die amerikanische Veterinärmedizinerin. "Die Tierarztbranche hat sich weder um die lange bekannte Arbeitszeitproblematik als auch um eine faire Bezahlung der Angestellten zu lange kaum gekümmert. Viele Kliniken arbeiten, was Arbeitszeiten der Angestellten betrifft, nicht gesetzeskonform. Doch in jüngster Zeit pochen immer mehr Angestellte auf die ihnen zustehenden Rechte."

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