Welche direkten Folgen hat der Ukraine-Krieg noch für die Bielefelder?

Herr Nürnberger, nach gut zwei Jahren Corona-Dauerstress haben Sie den Part an den neuen Umweltdezernenten Martin Adamski abgegeben. Jetzt geht es ebenso dynamisch für Sie weiter mit den Flüchtlingen, zum Durchatmen bleibt keine Zeit. Das hatten Sie sich sicher auch etwas anders vorgestellt, oder?INGO NÜRNBERGER: Ja, natürlich habe ich mir das anders vorstellt. Wir dachten alle, wir hätten die Corona-Krise weitgehend überwunden und könnten jetzt etwas sorgenfreier leben. Jetzt ist es anders und wir und auch ich müssen uns einer neuen Kraftanstrengung stellen. Die Hilfsbereitschaft ist riesig und wir arbeiten super in Bielefeld zusammen. Um mich muss sich niemand Sorgen machen. Um andere laut des Vorstands der Bielefelder Tafel schon. Er schlägt Alarm: Ohnehin gebe es seit Monaten mehr Nachfrage als Angebot. Mit den vielen Ukrainern, die jetzt zusätzlich kämen, habe sich die Versorgungssituation mit Lebensmitteln dramatisch zugespitzt. Wie ordnen Sie das ein? Ich weiß um das Problem. Wir als Stadtverwaltung versuchen, den aus der Ukraine geflüchteten Menschen so schnell wie möglich zu helfen: mit einer Unterkunft, in der die Menschen auch mit Lebensmitteln versorgt werden; mit Geldleistungen, die wir binnen weniger Tage auszahlen, zur Not auch als Barscheck. Und die Stiftung Solidarität gibt jedem Geflüchteten eine unbürokratische Starthilfe von 100 Euro. Mir ist aber bewusst, dass die Grundsicherungsleistungen gering sind, und die Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind noch niedriger. Deshalb sind viele Betroffene darauf angewiesen, sich durch die Tafeln und Lebensmittelausgabestellen finanziell zu entlasten, das gilt für die geflüchteten Personen genauso wie für andere Menschen mit geringen Einkommen. Wie wichtig ist ehrenamtliche Hilfe aktuell? Sehr wichtig, sie ist unverzichtbar. Die Hauptamtlichen in der Stadtverwaltung und in den Hilfsorganisationen leisten unglaublich viel aktuell, aber die Ehrenamtlichen ergänzen das mit einem ebenfalls unschätzbar großen Einsatz. Sie bringen Menschen unter, sie vermitteln Wohnungen, sie begleiten zu Behörden oder Ärzten, sie sammeln Spenden oder hören auch einfach nur zu, was die Menschen zu berichten haben. Das, was wir in den vergangenen Wochen in Bielefeld geschafft haben, geht nur gemeinsam – und das gilt auch für die Herausforderungen, die noch kommen. Viele Bielefelder haben gut erhaltene Möbel, Haushaltsgegenstände und Kleidung übrig, werden sie aber gefühlt teils gar nicht los, da die Organisationen aktuell mehr als genug haben. In puncto Nachhaltigkeit und mit Blick auf die Hoffnung der Ukrainer, gar nicht so lange hierbleiben zu müssen, wären doch gut erhaltene, gebrauchte Dinge eine gute Lösung. Diese Spenden würden dem Sozialamt auch Gelder für Wohnungsausstattung sparen. Ist da kurzfristig von der Stadt eine Art zentrales Spendenlager geplant?Nein, das ist momentan nicht geplant. Wir kooperieren bei den Sachspenden ganz eng mit den etablierten Strukturen wie Recyclingbörse, Brockensammlung, Stiftung Solidarität und binden dabei das freiwillige Engagement ein. Alle Kooperationspartner stimmen überein, dass allgemeine Spendenaufrufe die Systeme überfordern und sehr klar kommuniziert werden muss, was genau wie, wann und wofür benötigt wird. Dies hat in den letzten Wochen schon recht gut funktioniert.Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass jetzt die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung größer ist als 2015? Was sagen Sie denjenigen, die das jetzt kritisieren? Die Hilfsbereitschaft war 2015 groß und sie ist es auch jetzt wieder. Aber natürlich geht uns diese Tragödie besonders nah: Der Krieg liegt geografisch näher. Der Aggressor – Putin und seine Schergen – zielt eindeutig auch auf unsere Sicherheit und unser demokratisches System und unsere Art zu leben. Und manche haben vielleicht auch das Gefühl, dass ihnen Ukrainer kulturell näher sind als Menschen aus Syrien und Afrika. Ich glaube aber auch, dass diejenigen, die die Geflüchteten aus Syrien oder Afrika abgelehnt haben, und das zum Teil auch aus zutiefst rassistischen Vorurteilen, jetzt in der Regel nicht die sein werden, die sich jetzt besonders für die ukrainischen Geflüchteten einsetzen. Die spannende Frage wird sein, wie lange die Hilfsbereitschaft und die Unterstützung für die Ukraine generell anhält. Wir werden uns anstrengen müssen, dass diese Bereitschaft anhält. Je nachdem, wie es weitergeht, kann es für uns nämlich noch ungemütlich werden: Dieser Krieg und die Fluchtbewegung kostet uns wirtschaftlichen Wohlstand, die Staatsschulden werden steigen, die Handlungsspielräume des Staats und der Kommunen werden kleiner. In den Kitas und Schulen kann es noch enger werden, auf dem Wohnungsmarkt auch. Wir müssen die mit dieser Krise verbundenen Lasten gerecht in unserer reichen Gesellschaft verteilen. Diejenigen, denen es wirtschaftlich gut geht – also beispielsweise ich – müssen mehr davon übernehmen als Menschen, denen es nicht gut geht. Wir müssen darauf achten, dass wir alle gut mit der Situation leben können: Die, die zu uns gekommen sind, um Sicherheit zu finden, aber auch die Aufnahmegesellschaft. Wir brauchen also gute Lösungen zum Beispiel für Kitas und Schulen und den Wohnungsmarkt. Viele Bielefelder wollen einfach helfen. Wie kann man sich Ihrer Meinung nach am besten einbringen?Wer kann: mit Geldspenden. Und es wird immer wieder Aufrufe nach Sachspenden geben. Zudem mit Zeitspenden, beispielsweise mit Unterstützung in den Einrichtungen oder bei Behördengängen. Und vor allem auch mit der Bereitschaft, sich auf die neue Situation einzulassen. Wie gesagt: Wir werden die Folgen des Freiheitskampfs, den die Ukrainer für sich und die freie Welt führen, auch bei uns spüren. Dass ihre Kinder möglichst schnell wieder Schule haben, ist vielen Flüchtlingen enorm wichtig. Ist angedacht, gerade die älteren mit Technik zu unterstützen, damit sie alternativ zum Schulbesuch hier online am Unterricht in ihrer Heimat teilnehmen können?Zurzeit besuchen 387 geflüchtete ukrainische Schülerinnen und Schüler unsere Bielefelder Schulen. Kritisch ist zu sehen, dass das Schulministerium mittlerweile vorgibt, dass die Schulen nur noch geflüchtete ukrainische Kinder mit einer festen Meldeadresse in den Schulen aufnehmen und Kinder aus Gemeinschaftsunterkünften nicht beschulen sollen. Diese unterschiedliche Behandlung finde ich rechtlich fragwürdig und zudem auch moralisch schwierig. Damit bekommen gerade die Familien in den schwierigsten Unterbringungsverhältnissen am wenigsten Unterstützung. Mir ist klar, dass es eine Riesenherausforderung ist, für so viele ukrainische Kinder so schnell Schulplätze zu schaffen – in Bielefeld sind es ja schon über 700 zwischen 6 und 15 Jahren. Wir haben im Verwaltungsvorstand besprochen, dass wir möglichst schnell zusätzliche Freizeit- und Bildungsangebote für die Kinder und Jugendlichen insbesondere in den Gemeinschaftsunterkünften schaffen wollen. Allerdings können wir dazu noch nichts Genaueres sagen. Ich will nichts versprechen, was wir nachher nicht einhalten können. Im Grundsatz ist unser &bdquo;Laptop-Programm“ ausgeschöpft. Aber in der Tat nehmen noch relativ viele Kinder am ukrainischen Distanzunterricht teil – und das wohl mit großer Begeisterung, wie mir berichtet wird. Jetzt sind so gut wie alle Coronamaßnahmen weg. Mit welchem Gefühl gehen Sie in die kommende Zeit? Ich verstehe nicht, warum das Land NRW die Hotspot-Regelung des Infektionsschutzgesetzes nicht nutzt. Es erscheint mir sinnvoll, noch ein paar wenige Wochen mit bestimmten zumutbaren Einschränkungen – insbesondere der Maskenpflicht in Innenräumen – unterwegs zu sein. Ich weiß auf jeden Fall, dass ich persönlich erstmal auch weiterhin beim Einkaufen freiwillig Maske tragen werde. Info: Wer macht denn jetzt was? Ingo Nürnberger ist als Dezernent für Soziales und Integration fachlich zuständig für die Unterbringung und Versorgung von geflüchteten Menschen. Er leitet den Krisenstab, der sich aktuell vorrangig mit dem Thema &bdquo;Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten aus der Ukraine“ beschäftigt.Schuldezernent Udo Witthaus vertritt Nürnberger als Krisenstabsleiter.Martin Adamski ist als neuer Umwelt- und Verkehrsdezernent fachlich zuständig für das Gesundheitsamt und damit aktuell auch für das Thema Corona.

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