Früh gealtert: So leben die Senioren-Häftlinge im Bielefelder Gefängnis

Bielefeld. Haftraum 311: Sandgelb gestrichene Wände, ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett wie in einer Jugendherberge. Auf etwa 20 Quadratmetern lebt Peter B. (Name von der Redaktion geändert) mit einem Mithäftling. Der 67-Jährige musste sein altes Leben, das kein schlechtes war, wie er betont, gegen das Hafthaus Senne der JVA Bielefeld-Senne tauschen. 2017 wurde er wegen gewerbsmäßigen Betrugs und Insolvenzverschleppung zu sechs Jahren Haft verurteilt. Seit dem 4. März 2018 sitzt er. 87 der 131 Haftplätze an der Senner Straße sind für Senioren über 60, unter ihnen auch schwere Straftäter, die auf die Freiheit vorbereitet werden. Einige, erzählt JVA-Sprecher Axel Berger, sind auch jünger, wirken aber deutlich älter. &bdquo;Durch jahrzehntelangen Suchtmittelmissbrauch haben sie schon deutlich früher als andere die alterstypischen Gebrechen.“ Einige Insassen sind gehbehindert, andere haben als Folge von Einstichen in die Venen Thrombosen, wiederum andere Herz- oder Kreislauferkrankungen, Hepatitis C oder Diabetes. Die Menschen würden nicht in der JVA voraltern, sondern in der Zeit vorher, sagt Berger. Das Korsett des Vollzugs tue ihnen gut, hier werden sie medizinisch versorgt, haben geregelte Mahlzeiten. Der Tagesablauf ist strukturiert Peter B. hat Betriebsschlosser gelernt, später in unterschiedlichen Jobs gearbeitet und gutes Geld verdient, sagt er. Er hält sich fit in der JVA, geht jeden Tag mehrmals im Waldgelände des Hafthauses spazieren, 1.316 Schritte, immer die gleiche 8, die er läuft. Der Tagesablauf ist strukturiert, wer will, kann sich sein Essen selbst zubereiten. &bdquo;Die Zeit dazu habe ich“, sagt B. und erzählt von der Salami-Pizza mit Champignons und Zwiebeln, die er in der Küche am Abend zuvor vorbereitet hat. Hier trifft man den ein oder anderen Häftling. Das Soziale ist wichtig. Die meisten älteren, sagt Berger, seien sehr anpassungsfähig. &bdquo;Ich komme mit jedem klar“, sagt auch B. Aber wenn ihm was nicht passt, dann sagt er es. &bdquo;Man muss die Duschen und Toiletten so verlassen, wie man sie selber vorfinden möchte“, sagt er. Das sei aber für viele nicht selbstverständlich. Einige Häftlinge Ü-60, weiß Sprecher Berger, kommen auf mehrere Jahrzehnte Haft, es gibt aber auch die, die erstmals im Rentenalter in der JVA Senne landen. 15 Außenstellen und ein weiteres Hafthaus in Bielefeld-Ummeln gehören zur Justizvollzugsanstalt, sie ist europaweit die größte Anstalt im offenen Vollzug und hat sich mit speziellen Abteilungen auf die Gruppe der lebensälteren Gefangenen eingestellt. Die Betten sind hier etwas höher, an den Wänden gibt es Handläufe, in den Duschen Griffe, die Flure sind breit genug für Rollatoren. Gitterstäbe sind hier keine vor den Fenstern. Auch die Türen zu den Hafträumen sind nicht verschlossen, auf dem Gelände können sich die Häftlinge zwischen 7 und 19 Uhr bewegen. Danach ist Einschluss. Es geht hier primär nicht um Bestrafung, das Ziel sei vielmehr die Resozialisierung, sagt Berger. Arbeit ist Pflicht bis 65 In zwei Abteilungen sind nur Senioren untergebracht, in einem dritten Flur Jüngere. &bdquo;Wir wollen die lebensälteren Gefangenen nicht abschotten“, sagt Jens Seidler, stellvertretender Leiter der JVA Bielefeld-Senne. So hätten die Älteren auch die Möglichkeit, sich auf eben dem dritten Flur mit den jüngeren zu durchmischen, könnten sich dann aber auch zurückziehen, wenn sie Ruhe brauchen. Arbeit in der gefängniseigenen Gärtnerei, Tischlerei oder Schlosserei ist Pflicht bis zum Alter von 65 Jahren. &bdquo;Wer älter ist und noch kann und will, wird ebenfalls eingesetzt – was recht gefragt ist“, sagt Sprecher Berger. Denn viele seien ausgebildete Facharbeiter. Es sind einige, die sich auch über das Rentenalter hinaus etwas dazuverdienen. Von dem Geld können sie einkaufen, bei vielen ist es Tabak. B. gönnt sich schonmal Lachs oder Oliven. Er bekommt 153 Euro Altersrente und 150 Euro Sozialrente. Damit komme er im Gefängnis gut zurecht, sagt er. 676 Strafgefangene in NRW über 60 Aktuell sind unter NRW-weit 13.696 Strafgefangenen 676 über 60 Jahre alt, erklärt Wolfgang Schorn aus dem Justizministerium NRW. Das sind 4,9 Prozent. Er spricht von einem moderaten Anstieg. Zum Vergleich: 2013 waren es noch 538 Gefangene über 60. In der Regel sind Gefangene im hohen Alter betreuungsintensiver, sagt Jens Seidler. Ein großes Thema sei auch, wo man sie unterbringt, wenn sie entlassen werden. &bdquo;Bislang ist uns das immer gut gelungen“, sagt er. &bdquo;Aber es wird schwierig, wenn keine Familie mehr da ist.“ Die Haftanstalt ist bekannt für prominente Gefangene: Der einstige Top-Manager Thomas Middelhoff saß hier ein, aber auch Möbel-König Rolf Demuth und der ehemalige Sportbodenhersteller Friedel Balsam. Einen Promi-Status habe hier aber keiner, sagt Axel Berger. Alle würden gleich behandelt, so unterschiedlich die soziale Schicht auch ist. Was viele eint sei die Verzweiflung, sagt ein Gefängnispsychologe der JVA, der anonym bleiben möchte. Er hatte auch schon mit Gefangenen zu tun, die im hohen Alter wegen Totschlag sitzen – weil der erweiterte Suizid schiefgegangen sei. Redebedarf ist groß Der Redebedarf im Seniorenvollzug ist jedenfalls groß, weiß Elisabeth Biermann, Pfarrerin in der JVA Bielefeld-Senne. &bdquo;Bei uns haben die Gefangenen die Möglichkeit, ein Gespräch unter absoluter Verschwiegenheit zu führen“, sagt sie. &bdquo;Über das, was sie auf dem Herzen haben.“ Da stecke kein Therapieziel dahinter. Diejenigen, die zum ersten Mal hier sind, seien oft sehr angefasst, sagt Biermann. &bdquo;Das ist oft mit ganz viel Scham verbunden.“ Halt haben nicht alle im Leben &bdquo;draußen“: Bei vielen sei das soziale Umfeld total weggebrochen: weil sich Freunde und Verwandte abgewandt hätten oder verstorben seien. Es gibt aber auch die, die eine Familie haben, die auf sie wartet. So wie bei B. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und vier Enkelkinder. Einmal zwölf Stunden darf er in der Woche raus, andere Gefangene alle zwei Wochenenden auch das ganze Wochenende von samstags um 7 bis sonntags um 19 Uhr. Das dürfen aber nicht alle, es gibt ein langes und intensives Prüfungsverfahren, sagt Berger. Die Familien, sagt B., seien am stärksten betroffen, wenn ein Angehöriger sitzt. &bdquo;Die werden bestraft, müssen sich rechtfertigen.“ Keiner erzähle gerne, dass der Opa im Gefängnis sitze. &bdquo;Ich bin da allerdings immer eine Verfechterin der Wahrheit“, sagt Pfarrerin Biermann. &bdquo;Damit können Kinder besser klarkommen als mit einem Geheimnis, das ja immer präsent ist in der Familie.“ Am 4. März 2024 kommt Peter B. frei. Er hofft, dass er schon früher entlassen wird, wenn er zwei Drittel seiner Haftstrafe verbüßt hat. Das wäre kommenden Monat. Aber er muss nochmal vor Gericht, ein Verfahren gegen ihn läuft noch. So oder so: Er sei vorbereitet auf das Leben nach dem Knast.

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