Atomkraftwerk Grohnde brachte Bielefeld enorme Gewinne - jetzt ist Schluss

Bielefeld. 15.000 Kernkraftgegner aus ganz Deutschland versammelten sich im März 1977 an der Weser. Sie wollten den Bauplatz für einen neuen Druckwasserreaktor besetzen. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Als &bdquo;Schlacht um Grohnde" ging die Demonstration in die Annalen der Anti-Atomkraft-Bewegung ein. Erst 1984 lief der Betrieb des neuen Atomkraftwerks an. Die Anlage, die zu einem Sechstel den Stadtwerken Bielefeld gehört, wurde weltweit zu einer der erfolgreichsten ihrer Art. Nun läuft die Genehmigung ab. Am 31. Dezember wird Grohnde abgeschaltet – endgültig. Enttäuschte Hoffnung Am letzten Tag des Jahres wird das AKW vom Netz getrennt. Für Michael Bongartz wird das kein Tag zum Feiern. Er ist Leiter des Kraftwerkes mit rund 300 Vollzeit-Beschäftigten. Und er ist in der Nähe von Jülich aufgewachsen, hat als Kind im Hambacher Forst gespielt. Sein Heimatdorf Lich-Steinstraß hat der Braunkohletagebau weggefressen. Kernenergie ist zukunftsträchtiger, als &bdquo;als innerhalb einiger Generationen die Kohlevorkommen zu verbrennen und Grundwasser aus bis zu 400 Meter tiefen Löchern ins Meer zu pumpen", hat er gedacht und darum Reaktortechnik studiert. &bdquo;Es ist schon tragisch, dass nun Kernkraftwerke vom Netz gehen und der Kohleabbau fortgesetzt wird", sagt er heute. Anhaltende Sorge Auch für Angelika Claußen ist der 31. Dezember ein Tag der gemischten Gefühle. Sie ist Sprecherin der Anti-AKW-Initiative &bdquo;Bielefeld steigt aus" und Europa-Vorsitzende der Organisation &bdquo;Internationale Ärztinnen zur Verhütung des Atomkrieges". &bdquo;Die Regierung und die Atomkonzerne haben Wort gehalten", stellt sie fest. &bdquo;Wir sind glücklich und stolz, denn das hat unser Protest bewirkt. Aber wir sind weiter besorgt. Denn die Entsorgung des Atommülls bleibt ungeklärt." Langer Rückbau Mit der Abschaltung ist in Grohnde längst nicht Schluss. Der gesamte nukleare Rückbau, so der Betreiber PreussenElektra, werde wohl 15 Jahre dauern. Danach folgt der Abbruch der Gebäude, der weitere zwei Jahre in Anspruch nehmen werde. 90 Prozent des Werkes werden recycelt, zehn Prozent müssen als belastetes Material eingelagert werden. Bielefelder Beteiligung Daran hatte wohl niemand gedacht, als 1973 PreussenElektra und die Gemeinschaftskraftwerk Weser GmbH, an der die Stadtwerke Bielefeld bis heute zu einem Drittel beteiligt sind, den Beschluss zum Bau des Kraftwerks fällten. Bielefeld hält nach wie vor 16,7 Prozent der Anteile und ist damit neben München die einzige deutsche Stadt, der ein Kernkraftwerk gehört. Grohnde war ein Goldesel &bdquo;Der Beschluss erfolgte damals vor dem Hintergrund der Ölkrise", sagt Stadtwerke-Geschäftsführer Martin Uekmann. Anfangs konnte das städtische Versorgungsunternehmen gar nicht so viel Strom in seinen Gebiet absetzen, wie ihm aus Grohnde zustand. Die Beteiligung an den Fixkosten des Reaktors drohte zur Belastung zu werden. Erst durch die Liberalisierung des Strommarktes wurde das AKW an der Weser mit Beginn der 2000er-Jahre zur Geldmaschine. Die Stadtwerke konnten ihren Anteil des Grohnde-Stroms nun bundesweit vermarkten. Etliche Großkunden ließen die Kassen an der Schildescher Straße klingeln. Mit Hilfe der Gewinne wurden die Millionendefizite der Verkehrsbetriebe MoBiel und der Bädergesellschaft BBF gedeckt. Zudem flossen Jahr für Jahr satte Millionenbeträge an die Stadt – Geld, das künftig fehlen wird. Weltmeister-Kraftwerk Grund für den Ertrag war auch die enorme Leistungsstärke des AKW Grohnde. Es war in den 1980er und 1990er-Jahren acht Mal Weltmeister bei der Jahresstromerzeugung in der Kernkraft-Klasse. Im Februar 2021 stieg die insgesamt erzeugte Strommenge auf über 400 Milliarden Kilowattstunden – damit könnte man 250 Jahre lang den Strombedarf von Bielefeld decken. &bdquo;Bis heute gibt es weltweit keinen anderen Kraftwerksblock, der mehr Strom erzeugt hat", sagen die Betreiber. Damit lieferte das Kraftwerk pro Jahr zwei Prozent des gesamtdeutschen Strombedarfs. &bdquo;Dafür gebührt unserer Mannschaft Anerkennung über die Abschaltung hinaus", meint Kraftwerksleiter Bongartz. Auch Stadtwerkegeschäftsführer Rainer Müller betont: &bdquo;Die Mitarbeiter sind extrem engagiert. Die Sicherheit war immer das A und O. Wir hatten stets ein hohes Maß an Vertrauen." Gegner kritisieren Risiken Atomkraftgegner – darunter auch Linke, Grüne und die Wählergruppe Bürgernähe – sehen das anders. Grohnde ist nur 61 Kilometer von Bielefeld entfernt. &bdquo;Wir haben immer auf technische Defizite hingewiesen und die vorzeitige Abschaltung gefordert", sagt Angelika Claußen von &bdquo;Bielefeld steigt aus" und erinnert an Aktionen der "Regionalkonferenz", in der sich Kritiker aus OWL und Niedersachsen zusammenfinden. Notfallpläne wurden gefordert, Mahnwachen auf dem Jahnplatz abgehalten. Denn: Rund 270 &bdquo;meldepflichtige Ereignisse" wurden in fast 37 Jahren Laufzeit in Grohnde gezählt. Keine Störfälle &bdquo;Das sind aber keine Störfälle gewesen", betonen die Stadtwerkegeschäftsführer. Denn als &bdquo;Ereignisse" könnten beispielsweise auch Fehler an einer Ersatzpumpe oder einem Notstromaggregat gewertet werden. &bdquo;Es gab über die Jahre keine Auffälligkeiten", sagt Uekmann. Daher habe das Kraftwerk eine Verfügbarkeit von 91 Prozent gehabt – &bdquo;ein Spitzenwert im internationalen Vergleich", so Müller. Ausstieg auf Raten Nach der Katastrophe von Fukushima wurde 2011 der beschleunigte Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie beschlossen. Die Laufzeit Grohndes wurde auf Ende 2021 begrenzt. Gleichzeitig wurde festgelegt, wie viel Strom noch erzeugt werden durfte. Das Kontingent war jedoch schon 2019 erschöpft. Doch PreussenElektra kaufte Reststrommengen von anderen Kernkraftanlagen, die auf Grohnde übertragen wurden. Damit konnte bis zum Ende der Laufzeit weiter Strom erzeugt werden. Bielefeld stoppt Bezug Bielefeld bezieht seit April 2019 keinen Strom mehr aus Grohnde. Die Stadtwerke vermarkten ihren Anteil am Grohnde-Strom an der Börse. Die Stadt versorgen sie nun zur Hälfte mit Strom aus eigenen regenerativen Anlagen. Die andere Hälfte beschaffen sie an Strommärkten. Privathaushalte erhalten nur noch Strom, der als &bdquo;Öko" zertifiziert ist. Und ab 2030 will der Versorger Privatkunden ausschließlich mit Strom aus eigenen regenerativen Anlagen oder aus der MVA beliefern. Folgekosten Den Antrag zur Stilllegung und zum Rückbau des Kraftwerks hat PreussenElektra schon 2017 gestellt. Auch finanziell sind Stilllegung, Rückbau und Entsorgung von langer Hand vorbereitet. Insgesamt fast 2,9 Milliarden Euro sind dafür nach Angaben der Stadtwerke als Rückstellungen, Wertpapierfonds und liquidierbare Mittel vorhanden. Die Hälfte ist aufgrund gesetzlicher Regelungen bereits in einen Staatsfonds geflossen, aus dem die Entsorgungskosten bestritten werden. Die Stadtwerke sind dabei mit 240 Millionen Euro (177 Mio. Grundbetrag plus 63 Mio. Risikoaufschlag) im Boot. Für Stilllegung und Rückbau kalkulieren sie bislang noch einmal mit der gleichen Summe. Unverhoffter Geldsegen Allerdings: Da mehrere AKW in Deutschland zurückgebaut werden müssen und man voneinander lernen könne, &bdquo;könnte es positive Effekte und damit Ersparnisse geben", so Uekmann. Vielleicht bringt Grohnde noch einmal unerwartet Geld ein. So wie 2017, als eine Rückzahlung der Brennelementesteuer durch den Bund 120 Millionen Euro in die Kasse der Stadtwerke schwemmte. Gemischte Bilanz Auch wenn in Frankreich, England oder Holland derzeit der Bau neuer Atomkraftwerke diskutiert wird, stehen die Stadtwerke fest hinter dem Ausstieg. &bdquo;Kernenergie wird die Probleme der Energiewende nicht lösen", sagen die Geschäftsführer. Damit könne man nur Zeit kaufen. Klar sei: &bdquo;Wir brauchen einen drastischen Ausbau der Erneuerbaren." Kurz vor Mitternacht wird an Silvester die Turbine des AKW abgeschaltet. Müller und Uekmann wollen dabei sein und fahren nach Grohnde. Ihre Bilanz ist zwiespältig: Das Kraftwerk hat in Bielefeld gewaltige Investitionen in den ÖPNV und ökologische Energieerzeugungsanlagen ermöglicht. Aber die ungelöste Entsorgung der radioaktiven Rückstände wirft einen langen Schatten auf den finanziellen Erfolg.

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