Interview: "Der Bielefelder ÖPNV ist nicht attraktiv genug"

Bielefeld. Der Verein "Bielefeld pro Nahverkehr" will den ÖPNV in Bielefeld fördern. In einem Interview kritisieren der neue Vorsitzende Christoph Birnstein und sein Vorgänger Godehart Franzen, dass Bielefeld noch viel Aufholbedarf hat. Noch nie waren in Bielefeld so viele Autos gemeldet. Warum fahren die Menschen nicht mehr Bus und Stadtbahn? Godehart Franzen: Das Angebot ist nicht attraktiv genug. Es sind eine umfassende Qualitätsoffensive und ein effektives Marketing notwendig, damit die Attraktivität des ÖPNV gesteigert werden kann. Das Ziel muss es sein, die Fahrgastzahlen in den nächsten neun Jahren mindestens zu verdoppeln. In unserer Umfrage geben die Bielefelder an, dass die Preise zu hoch sind, die Taktungen zu gering und viele Anbindungen fehlen. Franzen: Ja, das stimmt. Bei den Preisen gibt es noch Handlungsbedarf. Kurze Strecken müssen deutlich günstiger werden. Die hohen Tarifsprünge an der Stadtgrenze schrecken ab. Zudem braucht es viel bessere Anbindungen. Die Ausweitung des Schienenverkehrs ist enorm wichtig für die Verkehrswende. Busse sind per se unbeliebter als Stadtbahnen, die als komfortabler empfunden werden. Der Ausbau der Straßenbahn geht in Bielefeld aber nur langsam voran. Christoph Birnstein: Ja, das größte Defizit ist das Tempo, mit dem in der Stadt die Erweiterung der Stadtbahn betrieben wird. Wir brauchen viel mehr Mut, um endlich voranzukommen. Wer die Verkehrswende wirklich will, muss den Fokus auf den Ausbau des Schienennetzes legen. Dafür braucht es deutlich mehr Fachkräfte beim Amt für Verkehr und bei moBiel. Planungskapazitäten müssen erhöht werden, sodass mehrere Projekte gleichzeitig mit Nachdruck umgesetzt werden können. Der Nahverkehrsplan muss straffe Zeitvorgaben festlegen. Andere Städte, die ihren ÖPNV ausbauen wollen, haben dreimal so viel Personal. Die Realität ist, dass die Linie 5 (Heepen-Sennestadt) scheiterte und die Planungen zur Verlängerung nach Sennestadt und Hillegossen ziehen sich hin, weil es viel Kritik gibt. Birnstein: Ja, wir haben mit der Ablehnung der Linie 5 durch die Bevölkerung eine richtige Klatsche bekommen. Deswegen darf man aber doch nicht aufgeben. Das wäre feige. Wir müssen die Menschen überzeugen. Der Wandel dient dem Allgemeinwohl künftiger Generationen. Für die Menschen ist es schwierig, die gesamte Tragweite solcher Projekte zu überblicken. Sie entscheiden aus dem Bauch heraus, geleitet von aktuellen Interessen. Was muss sich ändern? Franzen: Viele Dinge scheitern in der Zuständigkeit. Die Stadt, der Verkehrsverbund, die umgebenden Kreise: Sie alle sind verantwortlich für den Ausbau oder die bessere Nutzung vorhandener Schienen. Ideen gibt es zwar, wie man Dinge miteinander verbinden könnte, aber die Verknüpfungen fehlen? Warum tun sich die Akteure so schwer? Birnstein: In Bielefeld gibt es keine klare Linie. Und so ein Großprojekt braucht ein Gesicht. Es braucht jemanden, der für das Thema brennt. Das vermisse ich hier. Fakt ist, dass es seit 20 Jahren keine wesentliche Stadtbahnerweiterung in der Stadt gegeben hat. In vergleichbaren Städten wie Freiburg, Erfurt oder Mannheim gibt es bezogen auf die Einwohnerzahl inzwischen doppelt so lange Netze wie in Bielefeld. Warum ist seit dem Jahr 2000 so wenig passiert? Die Eröffnung der Linie 4 zur Uni war und ist ja ein riesiger Erfolg. Franzen: Ein schlimmer Einschnitt war der Teilverkauf der Stadtwerke an die Bremer. Die wollten keinen weiteren Stadtbahnausbau. Damals wurde dann sogar unmittelbar die zuständige städtische Abteilung für die Planung des Stadtbahnausbaus abgeschafft. Warum ist der Ausbau der Stadtbahn so wichtig für das Erreichen der autofarmen Innenstadt? Birnstein: Man kann grob sagen: Je höher die Versorgung einer Stadt mit Schienen ist, desto besser läuft der ÖPNV. In Bielefeld gibt es 180 Fahrten mit Bus und Bahn pro Einwohner im Jahr. Erfurt hat 270, Freiburg und Bonn haben 300. Karlsruhe 400 und Zürich sogar 540. Da ist also noch deutlich Luft nach oben. Städte mit reiner Busversorgung kommen nur knapp über 100. Einen wirklichen Qualitätssprung im ÖPNV schafft man nur mit der Stadtbahn. So ein Ausbau ist sehr teuer. Wie soll das alles bezahlt werden? Birnstein: Die andauernde Unterfinanzierung des öffentlichen Nahverkehrs bei den notwendigen Investitionen und bei den Betriebskosten muss durch eine entschiedene Reform der ÖPNV-Finanzierung beseitigt werden. Die Verantwortlichen auf allen staatlichen Ebenen müssen sich für so eine Reform einsetzen. Haben Sie die Hoffnung, dass der neue Verkehrsdezernent, der im April in Bielefeld seinen Dienst antritt, die Situation verbessern kann? Franzen: Ja, wir sind optimistisch. Es war eine richtige Entscheidung, den Bereich Verkehr aus dem Baudezernat rauszunehmen und auf eigene Füße zu stellen. Das Thema braucht von der Bedeutung her eine Eigenständigkeit. Weil es viel mit Klimaschutz zu tun hat, ist es gut, dass es mit dem Umweltamt verknüpft ist. Zu den Personen Der Verein Bielefeld pro Nahverkehr hat einen neuen Vorstand. Neuer Vorsitzender ist Christoph Birnstein, der die Nachfolge von Godehard Franzen antritt. Franzen scheidet nach mehr als zehn Jahren auf eigenen Wunsch aus, wurde aber von der Mitgliederversammlung zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Der neue Vorsitzende kündigte an, mehr Druck beim ÖPNV-Ausbau zu machen. Birnstein ist Kreisvorsitzender des ACE Auto Clubs Europa und ist im Regionalvorstand NRW. Seit seiner Kindheit interesiert er sich leidenschaftlich für Straßenbahnen. Er engagiert sich im Straßenbahnmuseum Hannover und bietet dort Führungen an. Alle bisher erschienenen Inhalte zu unserer Themenreihe Verkehr lesen Sie hier.

Meistgelesen