Schule schließt schwerkranken Jungen aus: Verzweifelte Familie sendet dringenden Hilferuf

Bielefeld. Wie hält man das als Eltern überhaupt aus? Javid Sarvari zuckt mit den Schultern. Er wirkt unendlich traurig und müde. Wer die Familie in ihrer Wohnung im vierten Stock eines Wohnblocks in Stieghorst besucht, kann verstehen warum. Ist tief berührt - und auch schockiert. Sohn Sepher (14) ist geistig behindert, autistisch und aggressiv - und seit anderthalb Jahren nur zuhause. Seit die Förderschule, die er seit 2015 besuchte, ihn im Januar 2020 vom Unterricht ausgeschlossen hat. Sepher kann nicht sprechen, gibt unverständliche Laute von sich. Er wirkt unruhig, wuselt rast- und ziellos durch die Wohnung, zerrt immer wieder an seinen Eltern, wirft sich auf den Boden und schreit zwischendurch so laut und unheimlich, dass seine kleine, 14 Monate alte, sehr zarte Schwester sich verängstigt auf dem Arm der Mutter versteckt und weint. "Das ist gefährlich für unsere kleine Tochter" Mit einem verzweifelten Hilferuf hat sich die Familie, die aus Afghanistan kommt und seit 2015 in Deutschland lebt, jetzt an die NW gewandt. Sie suche seit zwei Jahren vergeblich einen Wohnheimplatz für Sepher, sei da in Kontakt mit der Stadt, dem Jugendamt, der Diakonie und dem Landschaftverband Westfalen-Lippe (LWL). Aber es tue sich nichts. Er entbinde gern alle Beteiligten von ihrer Schweigepflicht, "Hauptsache, man hilft uns endlich", sagt Javid Sarvari. "Wir haben ein sehr schlechtes Leben - und das ist gefährlich für unsere kleine Tochter." "Wir können ihn nicht eine Minute allein lassen" Sepher wurde am 8. Januar 2020 vom Unterricht an der Albatrosschule ausgeschlossen, weil er eine Gefahr für die anderen Schüler darstelle, so die Begründung im Schreiben des Schulleiters an die Familie. "Zunächst bis zum 1. Mai 2020." Seitdem sei Sepher allerdings komplett zuhause, berichtete sein Vater. Der 14-Jährige hat Kraft, verletzt sich und seine Eltern, wie man an Beiß- und Kratzspuren deutlich sehen kann. Er reißt Gardinen runter, Fußleisten raus, Wäscheständer um. Längst hat der Vater alle Fenstergriffe abmontiert, damit nichts passiert. Entsprechend stickig ist es in der Wohnung, deren Einrichtung sich auf das Minimum beschränkt, weil nichts vor Sepher sicher ist. Der 14-Jährige hat nichts, womit er sich beschäftigen kann, berichten die Eltern. Geschweige denn etwas, das ihn irgendwie fördert. Einzig mit Schokolade oder dem Handy lasse er sich kurzzeitig etwas ablenken. "Wir können ihn nicht eine Minute allein lassen", berichten die Eltern. Und das seit über anderthalb Jahren. Was ist denn mit der Schulpflicht? Gibt es nicht auch für Kinder wie Sepher Schulpflicht, ein Recht auf Schule? Ja, alle Kinder haben laut Schulgesetz ein Recht auf Schule, bestätigt Karin Tscherniak, Schulaufsicht Förderschulen im Bielefelder Schulamt. Wenn Kinder allerdings beispielsweise derart aggressiv seien, dass sie ihre Mitschüler und Lehrer gefährdeten und auch die Unterstützung von mehreren Integrationshelfern da nicht fruchte, müsse man über alternative Angebote nachdenken. Beispielsweise Hausunterricht. "Aber den müssen die Eltern beantragen, und das haben sie in diesem Fall nicht", sagt Tscherniak. Es habe aber mehrere runde Tische gegeben, wo alle Beteiligten versucht hätten, eine Lösung zu finden. "Die Situation ist grenzwertig, für beide Kinder und auch für die Eltern, die Not ist besonders groß", sagt Birgit Epkenhans, zuständige Abteilungsleiterin im Jugendamt der Stadt. Das begleite die Familie aufgrund der besonderen Belastung seit Anfang 2020 intensiv. Aufgrund des sehr herausfordernden Verhaltens sei eine Unterbringung in einem geeigneten Wohnheim sicher am sinnvollsten. Die alleinige Zuständigkeit für eine stationäre Wohnform liege da aber beim LWL. Dem liegt laut LWL-Pressereferent Markus Fischer seit Juli 2020 ein Antrag für Sepher vor. "Wir haben bislang - leider erfolglos - deutschlandweit in rund 100 Einrichtungen angefragt." Aktuell erscheine die Unterbringung im Rahmen einer Individualmaßnahme in NRW denkbar. Allerdings stünden dafür derzeit das erforderliche Personal und die entsprechenden Räumlichkeiten noch nicht zur Verfügung. Auch mit der Fachstelle für Flüchtlinge, der Stadt und der dem sozialen Dienst des Evangelischen Klinikums Bethel stehe der LWL in engem Austausch. Bedarf hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen Es sei sehr schwierig, geeignete Plätze für Kinder und Jugendliche wie Sepher zu finden. "Der Bedarf an Angeboten zur Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit geistigen Behinderungen, die selbst- und/oder fremdgefährdend seien, hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen", berichtet Fischer. Eine Expertenkommission des Landes beschäftige sich gerade mit Lösungsvorschlägen für die dringend notwendige Verbesserung. &bdquo;Der Bedarf an Heilpädagogischen Intensivplätzen für Kinder und Jugendliche ist in Deutschland leider viel größer als das Angebot", sagt auch Bethel-Pressesprecher Johann Vollmer. "Zumal nicht viele soziale Träger diese Angebote für Kinder und Jugendliche, die einen außergewöhnlich intensiven Unterstützungsbedarf haben, anbieten." Diese Kinder und Jugendlichen, die teilweise übergriffige oder aggressive Verhaltensweisen zeigen, benötigen eine hohe Anzahl an Mitarbeitenden und insgesamt sehr gut ausgebildetes Personal, das sich intensiv 24 Stunden um eine Person kümmere. Das benötige enorme Mittel. Bethel wolle diese Plätze gerne ausbauen. "Wir suchen im konkreten Fall zusammen mit dem LWL intensiv nach einer kurzfristigen Lösung", sagt Vollmer.

Meistgelesen