Leere Hörsäle während Corona: „Ich würde das nicht mehr Studium nennen“

Bielefeld. Ihr ganzes Leben wurde von einem Tag auf den anderen in den Laptop verschoben. Einst waren Studierende für rege Diskussionen und wilde Party-Nächte bekannt, nun sitzen sie in ihren Zimmern, oft allein, und warten auf das Ende der Pandemie. Sie lernen weiter – trotz psychischer Belastung – und fühlen sich im Stich gelassen. Eine von ihnen ist Kira Müller. &bdquo;Ich weiß nicht, warum ich durchhalte; ich bin wie auf Automatik geschaltet und mache es einfach." Sie redet hier von ihrem Traum-Studium. Die 21-Jährige ist an der Fachhochschule Bielefeld für Wirtschaftsrecht eingeschrieben und eigentlich glücklich damit. Seit einer Weile zweifelt sie trotzdem immer wieder an ihrem Studium; bleibt nur noch dran, weil sie in zwei Jahren ihren Bachelor haben will. Online-Studium mit schlechtem Internet Am Anfang der Pandemie sei sie noch optimistisch gewesen. Nicht mehr pendeln, täglich drei Stunden mehr Zeit haben – klingt verlockend. Online-Vorlesungen und schlechtes Internet harmonieren aber nicht. Und in ihrem Dorf in der Nähe von Petershagen werden heute und morgen keine Glasfaserkabel verlegt. Kira verpasst also die Hälfte der Vorlesungen – immer, wenn ihre Mutter Home-Office hat, ist Kira unfreiwillig offline. Sie ist auf ihre Kommilitonen angewiesen, um alle Studieninhalte mitzubekommen. Aber auch mit denen ist der Kontakt in der Pandemie schwieriger. Es kann Stunden dauern, bis ihr jemand aus der Lerngruppe antwortet. "Wir haben uns halt alle seit über einem Jahr nicht mehr gesehen." Früher waren sie zusammen essen, zusammen feiern und haben vor Klausuren zusammen gelernt. Für Kira sind das nur noch Erinnerungen. &bdquo;Ich fühle mich völlig auf mich allein gestellt." Dabei weiß sie, dass es ihren Kommilitonen genauso geht: Eine Freundin habe nur im Garten Internet und nehme bei Wind und Wetter von da aus an den Vorlesungen teil. Kira verbringt den ganzen Tag in ihrem Zimmer: Schlafen, Essen, Sport, Lernen – alles findet auf ein paar Quadratmetern statt. Das alles fühle sich nicht mehr nach Studium an: &bdquo;Ich studiere nicht mehr, ich lerne nur." Mehr Infografiken finden Sie bei Statista Kira musste deshalb bereits ein Semester wiederholen; sie und ein paar Kommilitonen haben die Anmeldefrist für die Prüfungen verpasst. &bdquo;Natürlich liegt das nicht nur an Corona." Aber ohne die Pandemie wäre es nicht so leicht passiert: In echten Vorlesungen rede man mit den Leuten und die Dozenten erinnern an wichtige Fristen. Online ist das anders. Mehr Studierende brauchen Beratung Das bestätigt Ursel Sickendiek von der Zentralen Studienberatung der Uni Bielefeld. Während Corona melden sich mehr Studierende bei ihr – und sie haben andere Anliegen als sonst. Sickendiek erzählt von Internationalen, die allein im Wohnheim sitzen, Erstis, die aus ihrem Kinderzimmer irgendwo in Deutschland studieren und Vollblut-Studierenden, die sonst den ganzen Tag auf dem Campus verbracht und nun keinerlei Alltagsstruktur mehr haben. Die Gemeinsamkeit: Sie alle finden online keinen sozialen Anschluss. Oft führt das zu Verunsicherung über das Studium. Aus Verunsicherung wird Zweifel. Manchmal folgt ein Abbruch. Andere Studierende wollen zwar studieren, wissen aber nicht, wie sie das weiter finanzieren sollen. Sickendiek erklärt: &bdquo;Viele haben in der Pandemie ihre Jobs verloren." Gastronomie und Einzelhandel sind monatelang geschlossen, Studierende können dort nicht mehr jobben. Ihre Eltern können sie auch nicht immer finanziell unterstützen – während Corona haben viele Familien weniger Geld. Sickendiek versucht den Studierenden zu helfen. Sie spricht mit ihnen über ihre Schwierigkeiten und versucht, Lösungen zu finden; verweist oft auf andere Anlaufstellen. Am Ende müssen die Studierenden aber selbst entscheiden. &bdquo;In der Beratung raten wir zu nichts." Sickendiek arbeitet gemeinsam mit den Menschen heraus, was ihnen helfen könnte. Das Problem: Bei der Zentralen Studienberatung der Uni Bielefeld arbeiten sieben Berater, sechs davon in Teilzeit. Sie sind für rund 25.000 Studierende zuständig. Die Wartelisten für einen Beratungstermin sind dementsprechend lang. Der Austausch fehlt Abhilfe schaffen wollen die Studentinnen Katharina Schieke, Helena Wilde und Theresa Guth von &bdquo;LiLiGoesMental." Gegründet wurde die ehrenamtliche Hochschulgruppe der Uni Bielefeld schon vor Corona, mit der Pandemie sei sie aber gewachsen. &bdquo;Das Thema mentale Gesundheit rückt in den Fokus", sagt Katharina Schieke. Die Entwicklung begrüßt sie, nicht aber den Grund. &bdquo;Während Corona sind viele Studierende psychisch belastet." Vor allem der Austausch fehle ihnen – sowohl unter Studierenden als auch zwischen Studierenden und Dozenten. &bdquo;LiLiGoesMental" möchte das aber nicht einfach so hinnehmen. &bdquo;Gerade jetzt wollen wir den Dialog aufrechterhalten", erklärt Theresa Guth. Deshalb organisieren sie Online-Ersatz fürs Uni-Leben. Ein Beispiel: Die &bdquo;Study Buddy Session." Heißt, Studierende sind den ganzen Tag über zusammen in einem Zoom-Meeting und lernen – wie in einer Bibliothek. In dem Meeting können sie in sogenannte Breakout Sessions gehen, also verschiedene digitale Räume erkunden und beispielsweise in einer Lernpause im digitalen Café mit jemandem quatschen. Es gibt aber auch eine offizielle Mittagspause – mit dem Unterschied, dass die Studierenden sich aus ihren Küchen essen holen statt in der Mensa anzustehen. &bdquo;Wir wollen für Vernetzung sorgen", beschreibt Helena Wilde. Viele Studierende haben aktuell das Gefühl, allein zu sein – auch mit der psychischen Belastung. &bdquo;LiLiGoesMental" möchte den Studierenden zeigen, dass sie nicht die einzigen sind, die sich aktuell einsam oder frustriert, gar Pandemie-müde, fühlen. Das Thema mentale Gesundheit soll destigmatisiert werden. Umgang mit dem Stress Dafür wollen sie auch die Professoren sensibilisieren: Katharina Schierke erzählt von einer &bdquo;neuen Art der Prüfungsangst" bei Online-Klausuren. Man müsse sich die ganze Zeit filmen – Gesicht, Hände, Zettel, Stifte und Klausur müssen zu sehen sein. Der Toilettengang oder der Blick aufs Handy sollte nicht zu lang sein; es könnte sonst als Täuschungsversuch gewertet werden. Manche Studierende haben sogar gefragt, ob sie auch ihr Badezimmer filmen müssen. &bdquo;Natürlich nicht", sagt sie. Aber daran merke man, dass die Privatsphäre mittlerweile nicht mehr für selbstverständlich genommen wird. Sein ganzes Zimmer müsse man ja auch schon filmen. Schierke habe mit den Professoren darüber gesprochen, dass solche Prüfungen eine Barriere für Studierende sein könnten. Schon die Prüfungs-Umstände seien purer Stress, haben noch gar nichts mit dem &bdquo;Hilfe, vielleicht weiß ich die Antwort nicht"-Stress zu tun. &bdquo;LiLiGoesMental" versucht, die Situation für Studierende der Uni Bielefeld zu verbessern. Die Gruppe will aber auch vermitteln, dass es vollkommen okay ist, während einer Pandemie nicht so produktiv zu sein wie sonst. Man solle auf das schauen, was man schafft und nicht auf das, was man nicht schafft. &bdquo;Keine To-do, sondern eine Tada-Liste schreiben", erklären die drei. Kira Müller und die Studentinnen von &bdquo;LiLiGoesMental" finden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie notwendig. Sie verstehen, dass die Situation für alle neu ist – Fachhochschule und Uni eingeschlossen – und nicht auf Anhieb an alles gedacht werden konnte. Sie wünschen sich nur, dass man Studierenden genauso viel Verständnis entgegenbringt.

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