Oberbürgermeister Pit Clausen: "Keine Normalität mehr ohne Corona"

Es ist nun ein Jahr her, dass Sie die Stadt über den ersten infizierten Coronakranken informiert haben, das war am 7. März 2020. Wie geht es Ihnen zwölf Monate später?PIT CLAUSEN: Jeder muss im Umgang mit dieser Gefahr auch seine eigene Strategie finden. Wie begegne ich meinen Eltern, wie mache ich das mit meinen Freunden, wie mache ich das im beruflichen Umfeld. Wir sind ja nicht in einer kompletten Isolation. Wir müssen uns neu organisieren. Und das ist eine Aufgabe, die sich für jeden Einzelnen stellt. Für mich, für Sie und für alle anderen. Was ist es für ein Gefühl, die Stadt durch so eine Krise führen zu müssen? Als Oberbürgermeister unserer Stadt habe ich immer eine Vorbildfunktion. Da kann man sich gar nicht verstecken. Ich versuche dadurch, wie ich mich privat verhalte, aber auch wie ich mich beruflich organisiere, ein bisschen Leitidee für die Verwaltung zu geben und damit auch Orientierungspunkte für die Menschen in der Stadt. Also: Regeln beachten, kreativ sein und Zuversicht behalten. !function(){"use strict";window.addEventListener("message",(function(a){if(void 0!==a.data["datawrapper-height"])for(var e in a.data["datawrapper-height"]){var t=document.getElementById("datawrapper-chart-"+e)||document.querySelector("iframe[src*='"+e+"']");t&&(t.style.height=a.data["datawrapper-height"][e]+"px")}}))}();Die Pandemie stellt die Menschen vor große Probleme. Was glauben Sie, ist für Bielefeld die größte Herausforderung? Wir müssen im hohen Maße wachsam bleiben und bereit sein, getroffene Entscheidungen zu überdenken und neu auszurichten. Die Gefahr ist nicht vorbei und die Situation kann sich jeden Tag ändern. Ein Beispiel sind die Schulen, die jetzt wieder gestartet sind. Wir wissen nicht, wie sich die Inzidenz entwickelt. Wir müssen bereit sein, nicht nur über weitere Lockerungen nachzudenken, sondern auch wieder über Schließungen. Das fällt vielen schwer. Ja klar. Das zerreißt einen innerlich. Dass man immer wieder bereit sein muss, noch stärker die Daumenschrauben anzuziehen und gleichzeitig die Hoffnung hat, dass weitere Lockerungen und Öffnungen erfolgen. Das zerreißt mich auch in der Rolle des Oberbürgermeisters. Zum Thema: Corona-Regeln verlockert: Das gilt ab sofort in Bielefeld Die Hoffnung dieser Tage lautet Impfen. Leider wird nicht so viel geimpft, wie geplant war. Die ersten Impfungen konnten erst zwei Monate später beginnen – ärgert Sie das? Ja, dass es so eine Verschleppung gab, war ein Kommunikationsfehler der Bundesregierung. Es hätten keine Versprechungen gemacht werden dürfen, dass es noch vor Weihnachten losgeht. Man hat damit Erwartungen geweckt, denen man dann nicht gerecht wurde. Wir haben bis heute keine ausreichende Versorgung mit Impfdosen. Wir bekommen 1.300 von Biontech pro Woche. Die setzen wir ein für die Menschen 80 plus. Wir haben aber 24.000 Menschen in der Stadt, die so alt sind. Jetzt können Sie rechnen, wie lange wir brauchen, um die zu bedienen. Wir haben immer noch keine Zusagen über höhere Impfstoffversorgungen ab einem Zeitpunkt X. Das sorgt für Enttäuschungen, Verärgerungen und Frust. !function(){"use strict";window.addEventListener("message",(function(a){if(void 0!==a.data["datawrapper-height"])for(var e in a.data["datawrapper-height"]){var t=document.getElementById("datawrapper-chart-"+e)||document.querySelector("iframe[src*='"+e+"']");t&&(t.style.height=a.data["datawrapper-height"][e]+"px")}}))}();Die Menschen sehnen sich gerade nach guten Nachrichten. Ja, das macht es gefährlich. Auch für mich als Verwaltungschef und Politiker. Auch ich muss aufpassen, dass ich mich nicht von Stimmungen leiten lasse. Sondern, dass ich wachsam und vorsichtig bleibe. Die Stimmung ist gerade so, dass die Menschen raus möchten. In den Parks ist zu sehen, wie die Menschen aktuell das Wetter genießen. Die Bielefelder nehmen die Sonne auf wie ausgetrocknete Schwämme. Ich auch. Wir müssen jetzt aber aufpassen, dass wir nicht zu schnell lockern. Sonst verspielen wir das, was wir uns erarbeitet haben. Jens Spahn schlägt vor, noch im März Lehrer zu impfen. Sind Sie dafür? Verstehen tue ich das. Aber ich beobachte seit dem Impfgipfel, dass wir jede Woche neue Gruppen haben, die als besonders systemrelevant vorgezogen werden, ohne dass wir mehr Impfstoff zur Verfügung hätten. Das bedeutet für diejenigen, die bisher aus guten Gründen als erstes geimpft werden sollen, dass sie länger warten müssen. Wenn wir jetzt die Erzieher*innen und Lehrer*innen vorziehen, müssen die Polizist*innen länger warten. Wir können nicht alle gleichzeitig bedienen und nicht so viele Ausnahmen machen, dass die Regel zur Ausnahme wird. Zum Thema: Impfungen von Lehrern und Erziehern: Was wir wissen - und was nicht Es gab einen riesigen Ansturm auf Impftermine. Doch aufgrund der extremen Wetterlage haben einige gar nicht ihre Termine wahrgenommen. Wie läuft es aktuell? Ich habe den Eindruck, dass wir gut in der Spur sind in Bielefeld. Deutlich über 90 Prozent der Termine werden aktuell von den Menschen wahrgenommen. Es läuft im Impfzentrum bei den über 80-Jährigen sehr geordnet. Beim DRK sollen sich Mitglieder aus dem Vorstand vorgedrängelt und frühzeitig am Impfstoff bedient haben. Haben Sie dafür Verständnis? Ich habe kein Verständnis dafür, dass man sich vordrängelt. Wir haben klare Regeln. Diese Regelung mit Leben zu füllen ist Nächstenliebe und Solidarität. Wer sich daran vorbeimogelt, um sich einen Vorteil zu verschaffen, der handelt grob unanständig. Wir wagen einen Blick in die Zukunft. Was glauben Sie, bis wann alle geimpft sein werden? Wir ein Stück mehr Normalität bekommen werden? Die Bundeskanzlerin hat gesagt, zum Ende des Sommers, also September. Die Infrastrukturen dafür, das zu schaffen, sind da. Möglich ist es, wenn der Impfstoff kommt. Es wird aber keine Normalität mehr ohne Corona geben. Wir werden in Zukunft immer Rücksicht in einer Form nehmen müssen, die wir vorher nicht gekannt haben. Wir nähern uns mit großen Schritten einer neuen Normalität. Aktuell sind viele Menschen verunsichert wegen der Mutationen. Teilen Sie die Sorgen? Ja, natürlich. Weil wir über die Mutationen noch nicht so viel wissen. Dass die Inkubationszeit bei einem mutierten Virus eine andere ist als beim ursprünglichen Stammvirus, ist eine Information, die ich erst vor einigen Tagen bekommen habe. Das hat aber Auswirkungen darauf, wie wir die Quarantänestrategie machen oder wann wir den Testzeitpunkt sinnvoll definieren. Wir wissen noch viel zu wenig. Das müssen wir uns klarmachen. Wir sind nicht durch mit Corona. Zum Thema: Coronavirus-FAQ - die wichtigsten Fragen und Antworten Es gibt aber auch Gründe, zuversichtlich zu sein. Ja, absolut. Ich finde, dass wir in einem Moment sind, wo wir Zuversicht tanken können. Wir haben deutlich bessere Inzidenzwerte als zum Jahreswechsel, die Impfungen sind gestartet, der Winter scheint überwunden zu sein. Trotzdem müssen wir weiter vorsichtig sein und sehr viel testen. Wenn wir Auffälligkeiten feststellen, müssen wir sofort handeln. Was heißt das? Wir müssen in den Schulen und Kitas genau hinschauen und bei einem Infektionsgeschehen gegebenenfalls Standorte schließen. Aktuell liegt der Inzidenzwert unter 50. Viele wünschen sich Lockerungen. Diese Diskussion haben wir immer wieder. ’Wieso könnt ihr jetzt nicht öffnen’, werde ich oft gefragt. Wenn wir aber jetzt die Geschäfte aufmachen, dann kommen auch alle aus den Nachbarstädten, wo die Inzidenz vielleicht bei über 100 liegt, nach Bielefeld. Das wollen wir aber nicht. Für diese Lockerungen brauchen wir eine regionale Strategie. Im Städtetag sind wir dabei, dafür Bedingungen zu entwickeln. Das ist nötig, denn die aktuellen Eingriffe in unsere Persönlichkeitsrechte müssen auf das erforderliche und verhältnismäßige Maß begrenzt werden. Wir sind an einer Kante, an der wir ständig neu balancieren und überprüfen müssen, ob das alles noch geht. !function(){"use strict";window.addEventListener("message",(function(a){if(void 0!==a.data["datawrapper-height"])for(var e in a.data["datawrapper-height"]){var t=document.getElementById("datawrapper-chart-"+e)||document.querySelector("iframe[src*='"+e+"']");t&&(t.style.height=a.data["datawrapper-height"][e]+"px")}}))}();Für viele Branchen – Tourismus, Einzelhandel, Gastronomie, Kultur – ist die Situation extrem hart. Welche Unterstützung erfahren die Menschen von der Stadt? Wir haben bundesweit Rettungsschirme aufgebaut, die ich mir nie hätte vorstellen können. Sie werden aber nicht jeden retten können. Wir versuchen vor Ort mit unseren begrenzten Möglichkeiten zu unterstützen. Wir halten Verträge mit Künstlern und versuchen ihnen zu helfen, indem wir Vertragsinhalte verändern und an Corona anpassen. Das Gleiche gilt für die sozialen Leistungsverträge. Wir geben Unterstützung für Schullandheime, wir werden die Sondernutzungsgebühren für den Einzelhandel und die Gastronomie für 2021 beitragsfrei stellen, wenn der Rat uns dabei folgt. Wir erlassen Kitagebühren. Leider hat das Land aber für Februar noch keine Entscheidung getroffen. Wir diskutieren über einen verkaufsoffenen Sonntag, wenn es denn mal wieder losgeht. Bekommen Sie persönlich viele Hilferufe? Ja. Wie gehen Sie damit um? Die Hilferufe sind in unterschiedlichen Tonlagen. Wir versuchen, die sachlich zu beantworten. Aber häufig können wir nur auf die Rettungsschirme verweisen oder Kontakte herstellen. Es wird aber nicht allen geholfen werden können. Wir haben noch schwierige Jahre vor uns. Ja, wir werden darüber nachdenken müssen, Neuexistenzgründungen zu unterstützen. Aber das ist das Thema des zweiten Halbjahres 2021. Zurück zum aktuellen Krisenmanagement. Über Neujahr hat es beim Meldeverfahren an das RKI ordentlich geruckelt. Haben Sie verstanden, dass viele Bielefelder ein Stück weit Vertrauen verloren haben?Klar kann ich das nachvollziehen. Das war von uns eine Kommunikationspanne, die passiert ist und Irritationen bewirkt hat. Es gab deutschlandweit Probleme. Bei uns waren die Werte aber leider besonders weit weg von der Realität. Aber es war auch nicht das Drama, das einige darin gesehen haben. Es ist nicht eine Infizierung mehr erfolgt oder ein Mensch krank geworden. !function(){"use strict";window.addEventListener("message",(function(a){if(void 0!==a.data["datawrapper-height"])for(var e in a.data["datawrapper-height"]){var t=document.getElementById("datawrapper-chart-"+e)||document.querySelector("iframe[src*='"+e+"']");t&&(t.style.height=a.data["datawrapper-height"][e]+"px")}}))}();Aber von den Inzidenzwerten hängt viel ab. Ja, stimmt. Aber an den Rücktrittsforderungen, die dann kamen, merkt man auch, dass die Nerven blankliegen. Die Menschen sind bereit, auf Reizungen zu reagieren und überzureagieren. Das war nicht angemessen. Es war ja nicht nur adressiert an den Oberbürgermeister oder den Krisenstabsleiter. Sondern wir haben ja eine Kaskade von Verantwortlichkeiten. Dort hat es heftige Reaktionen gegeben. Das Bashing über ’die Blöden im Rathaus’, das in den sozialen Netzwerken immer wieder läuft, raubt einigen meiner Kollegen*innen die Lust, Verantwortung zu übernehmen. Das schwächt uns. Es wurde aber auch kritisiert, dass es im Krisenstab oft rumpelig läuft, wenn der Krisenstabsleiter nicht da ist. Ingo Nürnberger ist ein tougher Krisenstableiter. Der aber auch im gesamten Verwaltungsvorstand die Unterstützung bekommt, die er braucht dafür. Einer allein kann so etwas gar nicht. Aber er kniet sich da richtig rein und zwar von Montag bis Sonntag. Da bin ich ihm auch dankbar, dass er eine so gute Arbeit über viele Monate leistet. Lassen Sie uns zum Abschluss in die Zukunft blicken. Die Pandemie liegt hinter uns. Was haben wir aus dieser Zeit gelernt? Drei Dinge. Dass wir wissen, wie wichtig soziale Kontakte sind. Dass wir gelernt haben, das Selbstverständliche in seinem Wert neu zu ermessen. Das Zweite, was uns bleiben wird, ist die neue Form der Digitalisierung. Die Möglichkeiten, Arbeit flexibler zu gestalten. Das Dritte ist, dass Corona uns sensibilisiert dafür zu erkennen, dass es Menschen gibt, die soziale Nachteile haben und die wir deshalb noch viel intensiver unterstützen müssen.

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