Neue Vorwürfe gegen Bielefelder Klinik im Fall des mutmaßlichen Vergewaltigers

Bielefeld. Neuen Vorwürfen sieht sich das Evangelische Klinikum Bethel (EvKB) im Zusammenhang mit den Vergewaltigungs-Vorwürfen gegen jenen 32-jährigen Mediziner ausgesetzt, der sich in dieser Woche in der Untersuchungshaft das Leben genommen hatte. In einem Medienbericht wird darüber spekuliert, dass das EvKB bereits im Juli 2019 erste Missbrauchshinweise gehabt hätte, die Klinik den Arzt jedoch trotzdem bis April weiter beschäftigt habe. Diese Vorwürfe weist das EvKB nachdrücklich zurück. Doch die Fragen, wer wusste wann was, rücken gleichwohl in den Vordergrund, vor allem in Richtung der Ermittlungsbehörden. Mit dem Wissen von heute seien die Hinweise aus dem Jahr 2019 in der Tat "höchst verdächtig", sagt EvKB-Sprecherin Sandra Gruß. Aber die Klinik habe erst mit der Festnahme von der Verdächtigung des sexuellen Missbrauchs und den Vergewaltigungsvorwürfen gegen den Assistenzarzt erfahren. Von der Anzeige im September und folgenden Ermittlungen habe man bis zu einer Durchsuchung der Klinikräume im April 2020 nichts gewusst. Die Freistellung des 32-Jährigen sei daraufhin umgehend erfolgt. Immer noch "nur" vor dem Hintergrund des Verdachtes der Körperverletzung wegen nicht-sachgerechter Medikamentengaben. Betäubungsmittelverbrauch kontrolliert Der Vorwurf falscher Medikamentengabe habe nach einer Patientenbeschwerde am 3. September im Raum gestanden. Zwei Patientinnen hatten dem Assistenzarzt vorgeworfen, ihnen mutmaßlich Betäubungsmittel verabreicht zu haben. Es habe ein Gespräch des Oberarztes mit den Patientinnen geben, erst dabei sei von einer Patientin der mögliche Medikamentenmissbrauch im Juli 2019 zur Sprache gebracht worden. Damals soll die Frau eine angebrochene Flasche des Betäubungsmittels Propofol in ihrem Bettgefunden haben. "Im Juli kam es zu keiner offiziellen Beschwerde", betont EvKB-Sprecherin Sandra Gruß. "Weder die Pflegedienstleitung noch die ärztliche Leitung erlangten zu besagtem Datum Kenntnis von einer solchen Flasche." Im September sei nicht mehr nachzuvollziehen gewesen sein, wem die Patientin die Propofol-Flasche damals gegeben haben könnte. Falsche Medikamentengabe untersucht Die Klinik sei im September aber der Beschwerde nicht-sachgemäßer Medikamentengabe "im Sinne höchster Aufklärungssorgfalt" nachgegangen, so die Klinik-Sprecherin. So habe es ein Gespräch des zuständigen Chefarztes mit dem Assistenzarzt gegeben. Zusätzlich sei der Verbrauch an Betäubungsmitteln (BTM) der gesamten Neurologie kontrolliert worden. Propofol ist jedoch ein Narkosemittel, das nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, dessen Verbrauch wird nicht im Einzelnen dokumentiert. Sandra Gruß erläutert, dass im EvKB jährlich rund 44.000 Ampullen des Medikamentes verbraucht würden. Wenn die eine oder andere Ampulle verschwinde, sei dies nicht nachzuhalten. Betäubungsmittel wie Opiate würden dagegen verschlossen aufbewahrt und streng kontrolliert. Blut auf Betäubungsmittel untersucht Wichtig für das EvKB: Am 3. September seien medizinisch-labortechnische Untersuchungen durchgeführt worden, "um den Vorwurf objektiv abzuklären". "Beide Untersuchungen ergaben keine Auffälligkeiten", erklärt Sandra Gruß. "Zum damaligen Zeitpunkt ließen sich auf Grundlage dieser Aufarbeitung der Verdacht der Patientinnen nicht erhärten." Die Ermittlungsbehörden, die die entsprechenden Protokolle gesichtet haben, hätten dem Klinikum bestätigt, "zum damaligen Zeitpunkt mit entsprechendem Kenntnisstand alles zur Aufarbeitung des Sachstandes", getan zu haben, so Gruß weiter. Anzeige und Verfahren acht Monate nicht bekannt Der Anwalt der doppelt betroffenen Patientin hatte dann laut EvKB am 4. September eine Kopie der Akte angefordert, ohne jedoch einen Grund zu nennen. Das sei im Klinikalltag nicht unüblich. Danach, so Sandra Gruß, habe die Klinik bis zur Durchsuchung im April in der Sache nichts mehr gehört. Auch, dass nach der Anzeige der Patientin im September ein Verfahren eingeleitet worden sei, sei im EvKB nicht bekannt gewesen. Am Dienstag war der 32-jährige Assistenzarzt verhaftet worden, nachdem die Ermittlungsbehörden auf im April beschlagnahmten privaten Festplatten Videodateien endlich knacken konnten. Auf den Videos soll zu sehen sein, wie sich der Arzt an durch ihn betäubte Patientinnen vergehe. Am Donnerstagmorgen ist der Verdächtige in seiner Zelle in der JVA Brackwede tot aufgefunden worden. Er soll sich erstickt haben. Hätte der mutmaßliche Täter schneller enttarnt werden können? Die Frage steht im Raum, wann die Ermittlungen nach der Anzeige im September tatsächlich in Gang gekommen sind. Wann sind die Ermittler darauf gestoßen, dass der Verdächtige nicht nur wegen kleinerer Drogendelikte bereits polizeibekannt war, sondern gegen ihn bereits einmal wegen des Verdachts der Vergewaltigung ermittelt worden ist? Wann ist eins und eins zusammengezählt worden? Führungszeugnis "blütenrein" Eine Patientin im niederrheinischen Kreis Viersen hatte 2016 Strafanzeige erstattet, weil sie den Verdacht hatte, im Krankenhaus von dem damaligen Medizinstudenten betäubt und missbraucht worden zu sein. Die Staatsanwaltschaft Krefeld hatte die Ermittlungen letztlich eingestellt, nachdem das vermeintliche Opfer seine Aussage aufgrund von Erinnerungslücken zurückgezogen hatte. EvKB-Sprecherin Sandra Gruß betont, dass man von diesen Ermittlungen rein gar nichts gewusst habe. "Das Führungszeugnis des Assistenzarztes war ohne Eintrag, blütenrein." Der mutmaßliche Täter war im Februar 2018 im Bielefelder Klinikum angestellt worden. Sandra Gruß sagt, dass es sich bei dem Assistenzarzt um einen verlässlichen und freundlichen Kollegen gehandelt habe. "Auch das ist das Unfassbare an dem Menschen: seine kriminelle Energie." Weitere Opfer möglich Möglich ist, dass die siebenköpfige Ermittlungskommission "Medicus" noch weitere Opfer des mutmaßlichen Serienvergewaltigers identifiziert. Weitere auszuwertende Videos und eine Liste mit Dutzenden Frauennamen, die bei der Hausdurchsuchung in seiner Wohngemeinschaft gefunden worden sein sollen, nähren den Verdacht. Möglicherweise sind auch die diversen Abschiedsbriefe hilfreich, die der 32-Jährige in der Justizvollzugsanstalt Brackwede hinterlassen hat. Lesen Sie hier alle Berichte zum Fall.

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