Steht Bielefeld still, wenn der Stadtrat noch weiter zersplittert?

Bielefeld. Droht Bielefeld nach der Kommunalwahl ein Chaos im Stadtrat? Schon in der zu Ende gehenden Legislaturperiode hat sich der Rat zersplittert wie nie zuvor. Waren 2014 sieben Parteien und Wählergemeinschaften vertreten, wurden daraus im Lauf der Zeit zehn. Jetzt treten erstmals 13 verschiedene Gruppierungen an, zwölf Oberbürgermeisterkandidaten – und es gibt keine Sperrklausel. Stärkt das die lokale Demokratie oder führt das eher zum Gegenteil? Darüber hat die NW mit Detlef Sack gesprochen, Professor für Vergleichende Politikwissenschaften an der Uni Bielefeld. Fragmentierung muss kein Drama sein, meint Sack – wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Er spricht sich aber dennoch für eine Wiedereinführung der 2,5-Prozent-Hürde aus. Gemeinschaftsgeist gefragt Gleichwohl müsse eine weitere Zersplitterung nicht Unregierbarkeit oder Stillstand bedeuten, erklärt der Politikwissenschaftler. Es gebe aber eine wichtige Voraussetzung: einen lokalen Gemeinschaftsgeist. &bdquo;Wenn es eine Haltung quer durch die meisten Parteien gibt, dass sie insgesamt Gutes für Bielefeld erreichen und Probleme gemeinsam lösen wollen", könne Lokalpolitik auch trotz Parteienfragmentierung funktionieren. Detlef Sack: &bdquo;Je häufiger es zum Wechsel von Koalitionen kommt und zum offenen Streit, umso deutlicher wird, dass es diese kommunalpolitische Identität nicht gibt." ZEHN STATT SIEBEN Zur Erinnerung: Große Streitigkeiten in der Bürgergemeinschaft für Bielefeld (BfB) hatten zur Abspaltung von Mitgliedern aus dem Bielefelder Süden geführt, diese gründeten 2015 das Unabhängige Bürgerforum (UBF), das fortan mit einem Einzelvertreter im Rat vertreten war. Anfang 2019 der nächste große Knall, aus dem die &bdquo;Bielefelder Mitte" (BiMi) mit vier Ratsmitgliedern hervorging. Die BfB versank mit einem Sitz in der Bedeutungslosigkeit. Weitere Sitze haben die Bürgernähe und die Piraten, die zunächst als Gruppe agierten, die sich später auflöste. Pirat Michael Gugat verabschiedete sich 2019, nahm sein Ratsmandat mit und gründete die &bdquo;Lokaldemokratie in Bielefeld" (LiB). So wurde der Rat (66 Sitze) bunter, aber auch unübersichtlicher. Die &bdquo;Paprika-Koalition" verlor in allen Ausschüssen die Mehrheit, Rot-Grün musste sich Mehrheiten durch eine &bdquo;Rathaus-Koalition" mit Bürgernähe, Piraten und LiB sichern. Im Rat gab und gibt es ein Patt, weil CDU, FDP, Linke, BfB, BiMi, und UBF auf der anderen Seite gleich stark sind. Sehr oft gab die Bürgermeisterstimme von Pit Clausen den Ausschlag, um strittige Themen für das regierende Bündnis zu entscheiden. Jüngste Beispiele: der Umbau des Jahnplatzes oder der Vertrag mit dem Radentscheid. MIT KLEINEN SCHRITTEN Jetzt wollen auch noch die AfD und Die Partei in den Rat, die Bürgerbewegung für Zivilcourage (BBZ) und das Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG). Sollten sie alle im Anschluss tatsächlich vertreten sein, würde das aus Detlef Sacks Sicht zunächst einmal eines bedeutet: &bdquo;Die Wählerschaft ist genauso zersplittert und kann mit den etablierten Parteien relativ wenig anfangen." Unklare Mehrheiten bedeuten, dass alle viel mehr Konsens suchen und Kompromisse eingehen müssen, sagt der Wissenschaftler. Eine Meinungsbildung unter diesen Bedingungen sei schwerfällig. &bdquo;Alle stöhnen wechselseitig und würden sich wünschen, König von Bielefeld zu sein", sagt Detlef Sack und lacht. Gleichzeitig habe eine schwerfällige Meinungsbildung aber hohes Integrationspotenzial. &bdquo;Man hat keine stabilen Mehrheiten und muss deshalb unterschiedliche Leute mitnehmen." Damit sei vielleicht kein rasanter Fortschritt möglich, aber eine Entwicklung der kleinen Schritte, die viele Bürger mitnehme. Pro 2,5-PROZENT-HÜRDE Dennoch hält er eine Sperrklausel sinnvoll. &bdquo;Sie haben die Funktion, politische Interessen so zu bündeln, dass die jeweiligen Vertreter dank ihrer Relevanz und Organisationsfähigkeit diese Hürde auch schaffen." Und weiter: &bdquo;Wenn man die Kommunalpolitik ernst nimmt, haben auch die Räte eine wichtige Funktion, nicht nur der OB." Grundsätzlich sei es wichtig, durch öffentliche Begründungen immer wieder Akzeptanz für getroffene Entscheidungen herzustellen. Und man müsse vernünftig damit umgehen, wenn Wähler selbst demokratische Verfahren anstrengen, wie Bürgerbegehren und Bürgerentscheide. Allerdings: Es sind lediglich bestimmte soziale Gruppen, die laut Professor Sack, einen &bdquo;Riesenvorteil in der Artikulation ihrer Interessen an der Stadtgesellschaft haben". Die Bürgereinwände &bdquo;weiter unten" würden oftmals kaum angesprochen. Die kleinen und neuen Gruppierungen hätten gerade in Corona-Zeiten den Nachteil, dass sie es schwerer haben, ihre Inhalte zu vermitteln und zu überzeugen. Normalerweise sei es der Vorteil von Lokalpolitik, dass &bdquo;man die Leute auf den Straßen und Plätzen anspricht und inhaltlich mitnimmt". GEFÜHL ENTSCHEIDET Dazu komme, erklärt der Politikwissenschaftler, dass die meisten Bürger nicht lange im Voraus strategische Wahlentscheidungen treffen, Kosten-Nutzen abwägen. &bdquo;Wir wählen weitgehend nach Gefühl", erklärt Detlef Sack. Die trivialen Fragen des Alltags seien entscheidend. Die Wähler würden mit Blick auf die eigene Lebenswelt zumeist die jüngste Vergangenheit betrachten und auch noch danach gehen, welcher Kandidat ihnen optisch am besten gefällt. &bdquo;Schöner wäre es natürlich anders, aber so sind die Befunde nicht." Wahl-o-maten seien ein Instrument, &bdquo;das man zur Rationalisierung der Wahlentscheidung durchaus nutzen kann", sagt Detlef Sack. Leider gebe es diese Möglichkeit nicht zu Kommunalwahlen. Die NW hatte 2014 einen interaktiven Wahlhelfer im Angebot, der dieses Mal nicht wiederbelebt werden kann. In Print und auf online auf nw.de werden jedoch die wichtigsten Statements der Parteien zu elf Themenbereichen aufbereitet.

Meistgelesen