Opa ins Heim geben? Undenkbar für diese türkische Familie aus Bielefeld

Bielefeld. Als Gastarbeiter kamen sie vor mehr 50 Jahren nach Deutschland. Die meisten von ihnen sind für immer geblieben. Heute sind sie alt und viele von ihnen brauchen Pflege, wissen allerdings nicht, wie und wo sie die einfordern können. Pflege ist vor allem bei Muslimen noch immer Familiensache. Die Hemmschwelle, Angehörige in ein Altenheim zu geben, ist hoch. Allerdings lässt die Lebenssituation der Verwandten in der zweiten und dritten Generation nichts anderes zu. Ähnlich wie in deutschen Familien. Der Vater kam als Gastarbeiter nach Bielefeld Allein in Bielefeld leben aktuell gut 17.000 Migranten über 60 Jahre. Einer von ihnen war Tunc Katal. 1968 kam er aus der ostanatolischen Stadt Varto als Gastarbeiter zur damaligen Feldmühle in Hillegossen. Die Familie blieb in der Heimat. Nach und nach holte er seine Angehörige nach Bielefeld, zunächst seine vier Söhne, später auch die Ehefrau. Die Fotos von Katal zeigen einen starken Mann. &bdquo;Er hatte viel Kraft", erzählt Berivan Katals (28), seine Enkelin. &bdquo;Opa hat immer nur gearbeitet." Doch die Kraft verließ den Mann mit dem weißen Oberlippenbart, als er 2006 einen Schlaganfall bekam. Der damals 62-Jährige wurde als Pflegefall aus dem Krankenhaus entlassen, zurück nach Hause zu seiner Ehefrau. &bdquo;Niemand hat uns darüber informiert, wie wir mit einem kranken Angehörigen umgehen sollten", erinnert sich seine Schwiegertochter Cigdem Katal (48). Der Hausarzt habe noch einige Physiotherapie-Anwendungen verschrieben. Gebracht habe das allerdings nicht viel. Wer sollte sich um den kranken, teilweise gelähmten Vater kümmern? Seine Ehefrau hatte gerade einen Herzschrittmacher bekommen, reiste häufig in die Türkei, um sich um die an Krebs erkrankte Tochter zu kümmern. Die vier Katal-Sohne beriefen den Familienrat ein. Sie selbst wollten diese Aufgabe übernehmen. Wer gerade Freizeit hatte, sollte sich um das Oberhaupt kümmern. Einen externen Pflegedienst zu beauftragen – das lag jenseits ihrer Vorstellungskraft. &bdquo;Wir hatten ja so eine Situation noch nie vorher erlebt", erklärt Burhan Katal, der 53-jährige Sohn. Die Jahre vergingen. Der Senior konnte die Wohnung nicht verlassen. Die Brüder wechselten sich bei der Betreuung ab. Sie wuschen den Vater, rasierten und fütterten ihn. Die Situation änderte sich erst, als die Familie Kontakt zu Mehmet Ali Ölmez bekam. Der Vorsitzende des Integrationsrats klärte die Angehörigen über die vielfältigen Möglichkeiten auf, Hilfe bei der Versorgung des Pflegebedürftigen zu bekommen, gab ihnen Orientierungshilfen auf dem Weg zu den zuständigen Sozialdiensten und Behörden. Wie groß der Informationsbedarf bei Migranten ist, verdeutlichte jetzt auch die Bielefelder Veranstaltung zum Thema &bdquo;Alt ist nicht gleich alt. Im Mittelpunkt stand die Situation älterer Menschen mit Migrationshintergrund und die Frage, wie man diesen Personenkreis erreichen kann.Gründe, warum Beratungs- und Hilfsangebote nicht wahrgenommen werden, sind unter anderem mangelnde Sprachkenntnisse und kulturelle Hemmungen, außerhalb der Familie Unterstützung zu beanspruchen. Tunc Katal bekam schließlich Hilfe: Zunächst wurde die Wohnung barrierefrei umgestaltet. Und er erhielt einen Rollstuhl, mit dem er sich wieder draußen bewegen konnte. Doch für die Pflege blieb weiterhin die Familie zuständig. Elf Jahre lang. Selbst am Totenbett wich die Familie nicht von seiner Seite Bis sich der Gesundheitszustand von Tunc Katal verschlechterte. &bdquo;Wir mussten einsehen, dass wir ihn nicht länger zu Hause versorgen konnten", berichtet Burhan, der Sohn. &bdquo;Allerdings wussten wir von früher, dass man alte Menschen nicht einfach so ins Heim gibt. Das war in unserer Gesellschaft so festgeschrieben", ergänzt seine Frau. Wer sich anders verhielte, müsse sich schon mal Vorwürfe anhören, etwa: &bdquo;Warum können sich so viele Kinder nicht selbst um den Vater kümmern?" Erschwerend hinzu kam die Angst des alten Mannes vor einem Pflegeheim. Mangelnde Deutschkenntnisse, die Vorstellung, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein – das alles habe den Opa traurig gemacht, berichtet die Enkelin. Als dann die Söhne versprachen, sich auch künftig um ihn zu kümmern, willigte Tunc Katal ein. 2016 bezog er sein Zimmer in einer Einrichtung des Johanneswerks. Dort blieb er gut drei Jahre. Wieder leisteten die Geschwister in dieser Zeit vollen Einsatz. Ein Sohn kam, um den alten Mann zu waschen und zu rasieren, der andere half ihm beim Essen. Sonntags holte die Familie ihn regelmäßig zum gemeinsamen Frühstück nach Hause. Die Treppe hoch trugen sie den Vater auf einem Stuhl. &bdquo;Bis zuletzt hat Opa durch uns Kraft bekommen", sagt die Enkelin, &bdquo;er hat immer gewusst, dass er nicht allein ist". Als Tunc Katal dann im vergangenen Februar ins Krankenhaus kam, als die Ärzte sagten, dass es für den 77-Jährigen keine Hilfe mehr gab, da wich die Familie nicht von seinem Bett – drei Tage bis zu seinem Tod. &bdquo;Wir haben alles für ihn getan", diese Gewissheit beruhigt auch Cigdem, die Schwiegertochter. Außer den vielen Erinnerungen an den Schwiegervater bleiben viele Videos und Fotos, die sich alle immer wieder gemeinsam ansehen. Bielefeld stellt sich auf immer mehr ältere Migranten ein Vorbild für Migranten

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