Angst in der Jüdischen Gemeinde: Entsetzen über Urteil zur Neonazi-Demo

Bielefeld. Dass der Angriff auf die Synagoge in Halle (Saale) keine antisemitische Ausnahme in Deutschland ist, zeigt sich auch in Bielefeld – auch, wenn hier bisher Drohungen und Provokationen das Mittel der Wahl sind. Die Serie der offenen Anfeindungen wird länger, die Gemeindemitglieder haben zunehmend Angst. Erst kürzlich hat die Jüdische Kultusgemeinde einen anonymen Drohbrief erhalten, in dem der Schreiber ankündigt, dass die Juden "verschwinden" werden. Im jüngsten Europawahlkampf hing äußerst provokativ die Wahlwerbung von Neonazis direkt vor der Synagoge. Nicht weniger entsetzt zeigte sich die Gemeindevorsitzende nun über das jüngste Gerichtsurteil, das Neonazis am 9. November erlaubt, durch Bielefeld zu marschieren. DROHBRIEF Ende September bereits war ein anonymer Drohbrief bei der Gemeinde eingegangen, das bestätigte Irith Michelsohn, Vorsitzende der Gemeinde. Der Text des Drohbriefes fordert, dass die Juden &bdquo;verschwinden sollen". Ob der Drohbriefschreiber aus der Neonazi-Szene stammt, ist unklar. Denn er wirft der jüdischen Gemeinde vor, das Gebäude der evangelischen Paul-Gerhardt-Kirche weggenommen zu haben. Dabei hat die evangelische Kirche Bielefeld das Gebäude 2007 selbst entwidmet und verkauft. 2008 wurde daraus die Synagoge "Beit Tikwa". Nun ermittelt der polizeiliche Staatsschutz in der Sache, um den Schreiber zu ermitteln. PLAKAT-PROVOKATION Im Mai 2018 hingen während des Europawahlkampfes plötzlich direkt vor der Synagoge sechs Wahlplakate der Neonazi-Partei "Die Rechte". Die unverhohlenen antiisraelitischen Inhalte wurden von der Gemeinde als verbotene Hetze eingestuft. Michelsohn erstattete Anzeige, doch die Polizei stufte die Wahlsprüche als nicht strafrelevant ein, da es sich um freie Meinungsäußerungen handelte. Michelsohn war entsetzt: Einerseits über die Plakate selbst, aber auch über die Genehmigung dieser Plakate vom Amt, was sie als zumindest "unreflektiert" kritisiert. NEONAZI-URTEIL Irith Michelsohn ist &bdquo;stolz und dankbar, in einem demokratischen Land zu leben". Sie frage sich aber mehr denn je, wo die Demokratie anfange und wo sie aufhöre. Mit &bdquo;Entsetzen" habe sich wahrgenommen, dass Richter des Verwaltungsgerichts nun erlaubt haben, dass Rechtsextreme und Neonazis ausgerechnet am 9. November durch Bielefeld marschieren dürfen. Die Polizei hatte den Anmeldern zunächst per Verfügung den historischen Tag für ihre Demo verboten. Das Gericht kippte die Verfügung als rechtswidrig, weil die Stoßrichtung der Neonazi-Demo nicht gegen das Gedenken an den Judenpogrom gerichtet sei. &bdquo;Das Urteil hat mit Demokratie nichts mehr zu tun", sagt Michelsohn. Die Holocaust-Leugnerin und Volksverhetzerin Ursula Haverbeck habe am 8. November Geburtstag: &bdquo;Ich verstehe nicht, warum die dann nicht am diesem Tag demonstrieren?" Irith Michelsohn befürchtet nach den Erfahrungen der Neonazi-Demo im November 2018, dass viele Bürger an jenem Tag wegen der massiven Polizeiabsperrungen nicht die Straßenseiten wechseln und dadurch womöglich auch nicht an der Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an den Judenpogrom teilnehmen können. &bdquo;Außerdem wird es viele Menschen geben, die Angst haben." Michelsohn prognostiziert jetzt schon, dass gerade die älteren Gemeindemitglieder, die bereits als Osteuropäer in Deutschland Ausgrenzung erleben, nicht erscheinen werden. Dieses Urteil nehme ihnen die Möglichkeit, am Gedenken teilzunehmen. &bdquo;Wenn ich als Demokrat nicht an einer demokratischen Veranstaltung teilnehmen kann, dann lässt das Urteil schon Zweifel an der Justiz aufkommen." ANTIFA-DEMO Auch das &bdquo;Antifaschistische Bündnis Bielefeld verurteilt die Entscheidung des Gerichts", heißt es in einer Mitteilung. &bdquo;Dass das Gericht in einer antisemitischen Demonstration für eine verurteilte Holocaustleugnerin keine Störung des Gedenkens an die Opfer der Novemberpogrome sieht, ist für uns vollkommen unverständlich, aber nicht überraschend." Aus Erfahrung wüssten die Mitglieder des Antifa-Bündnis, dass man sich "im Kampf gegen Nazis" nicht auf den Staat verlassen könne. Wie im Vorjahr werde der Zusammenschluss linksradikaler Gruppen einen Tag vor der Neonazi-Demo - also am Abend des 8. November - in Bielefeld eine &bdquo;Gedenkdemonstration für die Opfer des Faschismus" anmelden. Mehr als 500 Demonstranten waren damals dem Aufruf der Antifa gefolgt. GEMEINDELEBEN Schon länger rät Irith Michaelsohn ihren Gemeindemitgliedern, die Kippa - die traditionelle jüdische Kopfbedeckung - nicht mehr öffentlich zu tragen. Aggressionen und Antisemitismus hatten schon lange vor Halle zugenommen. Ob das vom Täter geplante antisemitische Massaker weitere Folgen für die Bielefelder Juden habe, könne die Gemeindevorsitzende noch gar nicht abschätzen. Am Mittwoch habe sie viel Bestürzung wahrgenommen. &bdquo;Die Sorge vor den Neonazis in Deutschland ist nicht kleiner geworden." Anschließend habe man sich nicht mehr getroffen. Am Sonntag aber feiere die Bielefelder Gemeinde bereits das Laubhüttenfest: &bdquo;Da wird sich zeigen, wer sich traut zu kommen und wer lieber zu Hause bleibt. Gerade die älteren Menschen haben Angst vor neuerlicher Ausgrenzung." MAHNWACHE Das Bielefelder &bdquo;Bündnis gegen Rechts" ruft nach den Vorfällen von Halle (Saale) am Sonntag, 13. Oktober, von 12 bis 12.30 Uhr zu einer stillen Mahnwache vor der Synagoge an der Detmolder Straße 107 auf. Motto der Mahnwache &bdquo;Gegen Antisemitismus – Solidarität mit unseren jüdischen Mitbürgern". Das Bündnis ruft alle Bielefelder zur Teilnahme auf, um Solidarität zu zeigen. Es sind keine Reden geplant. Die Mahnwache, die in Absprache mit der Jüdischen Gemeinde organisiert wurde, soll ausdrücklich still sein. KONZERT Um 16 Uhr am Sonntag spielt in der Synagoge das &bdquo;Trio Cannelle" – ein Konzert für Jedermann mit Musik der 1920er Jahre. Anschließend lädt die Gemeinde alle Besucher zu Beginn des Laubhüttenfestes zum Abendgebet und Verweilen in der &bdquo;Sukka" ein.

Meistgelesen