Bielefeld. Richard Oetker war Student der Brau- und Agrarwissenschaften, als der 25-Jährige am 14. Dezember 1976 auf einem Parkplatz in Freising bei München in den Lauf einer schallgedämpften Pistole blickte. "Das Ding macht nur Klack", sagte Automechaniker Dieter Zlof. Er zwang den 1,94 Meter großen Unternehmersohn in eine Kiste, in der Oetker durch einen Stromschlag lebensgefährlich verletzt wurde (siehe Chronologie). 40 Jahre danach führt der 65-Jährige den Weltkonzern Dr. Oetker, die Geschichte des Entführungsopfers wurde er seither nie los.
Das sagt* Richard Oetker über...
Die Tat
"Mein ganzer Körper bebte, als ich in dieser Kiste lag." Sie war schulterbreit und 1,44 Meter lang. Wie ein Embryo lag der 1,94 Meter große Mann an Handschellen gefesselt in dem "Sarg", wie die NW schrieb. "Über ein Babyphone nahm der Entführer Kontakt mit mir auf." Oetker betont, dass er auch in dieser Situation seinen Optimismus nie verlor. Um Nähe zum Entführer aufzubauen, wollte er ihn duzen, nannte den Unbekannten "Checker". Das war der Spitzname seines besten Freundes.

Seine Reaktion
"Nach der ersten Schockphase habe ich mich gefragt, was kann ich tun? Ich konnte hören, riechen, nicht viel sehen. Ich bin nicht in Selbstmitleid zerfallen, sondern ich wurde aktiv. Ich konzentrierte mich darauf, alles in meinem Gedächtnis einzuprägen." So bemerkte er, dass Zlof einen sechszylindrigen Mercedes fuhr, gesehen hatte ihn Oetker nie.
Der 25-Jährige merkte sich sogar die Handschrift und den Preis auf dem Schaumstoff, den der Entführer ihm in die Kiste gelegt hatte. Die Polizei machte die Verkäuferin dadurch ausfindig. Sie konnte Zlof beschreiben. "Man kann sich in einem solchen Zustand mehr merken, als viele glauben."

Den Stromschlag
"Es tat höllisch weh. Ich dachte, ich sterbe." Alle Muskeln seines Körpers zogen sich zusammen, durch die Fesslung brach er sich die Hüftgelenke, zwei Brustwirbel und quetschte seine Lunge. Durch den hohen Adrenalinspiegel im Körper hielt Oetker die Schmerzen aus, aber "ein Teil meiner Lungen war inaktiv. Wäre ich gezwungen worden, weiterhin in dieser Embryonalstellung zu liegen, hätte ich nicht überlebt", weiß Oetker heute.
Die Qualen
"Wenn man mir vorher gesagt hätte, was ich da durchmachen müsste, hätte ich gesagt: Das schaffe ich nicht. Ich war erstaunt, welche Kräfte auf einmal in mir wach wurden." Wegen des Lungenschadens konnte der 25-Jährige nach der Befreiung nicht in Narkose operiert werden. Bei vollem Bewusstsein bohrten die Ärzte Löcher in seine Kniescheiben, um die Hüftgelenke mit Gewichten herunterzuziehen. "Seitdem habe ich die Gewissheit, dass Menschen viel mehr aushalten, als wir glauben."

Spätfolgen
"Seelische Wunden habe ich nicht", sagt Oetker bestimmt. In den unzähligen Befragungen der Polizei habe er sich vieles von der Seele geredet. "Deswegen hatte ich nie psychische Probleme. Trotzdem schickte man Oetker nach seiner Befreiung einen Psychiater, der ausgerechnet Dr. Angstwurm hieß. "Nach zwei Sitzungen war klar, dass ich keine professionelle Hilfe mehr brauchte. Nach wie vor bin ich Optimist und empfinde keine Angst oder Misstrauen gegenüber Menschen. Ich finde es selbst erstaunlich, dass ich nicht daran zerbrochen bin."
Schwerer wiegen die körperlichen Folgen: "Ich bin in meinen Bewegungsradius eingeschränkt, kann weder lange stehen noch sehr weit laufen", sagte Oetker bereits in einem Interview mit der Welt 2010.
Verdächtigungen
Richard Oetker berichtete einem Polizisten, der ihn damals im Wald bei München befreit hatte, all seine Beobachtungen. "Der Beamte konnte gar nicht so schnell mitschreiben", wie er mit Details gefüttert wurde. "Später haben sich Widersprüche zwischen meinen Aussagen und dem Gedächtnisprotokoll dieses Beamten ergeben. Da merkte ich, dass selbst ich dadurch in den Kreis der möglichen Täter geriet." Auch damit ging Oetker mit erstaunlicher Sachlichkeit um: "Mein Ziel war einzig die Aufklärung der Tat. Beleidigt sein, kam nicht in Frage. Aufgeben auch nicht." Der 25-Jährige ertrug also auch scheinbar dumme Fragen. Die Polizeibeamten kamen jeden Tag: "Ich lernte dadurch, mit dem Fall sachlich umzugehen. Trotzdem belastete es mich, dass ich niemanden aus meinem Freundeskreis oder der Familie ausschließen durfte. Da wird man wahnsinnig. Man kann diesen Menschen nicht so lange mit Misstrauen gegenübertreten."
Den Prozess
Nach zwei frischen Operationen erschien Oetker auf Krücken im Gerichtssaal. Anfangs saß er im Blitzlichtgewitter der Pressefotografen. "Doch plötzlich drehten sich alle um, als der Angeklagte in den Gerichtssaal geführt wurde. Und ich saß da wie ein bestelltes Zootier." Auf Anfrage sagt er heute: "Die damalige Berichterstattung in den Medien war sehr auf den Täter fokussiert. Darüber war ich frustriert und enttäuscht. Den Umgang mit mir als Tatopfer habe ich trotzdem vorwiegend als respektvoll empfunden."
Das Urteil
Der Angeklagte Dieter Zlof bekam die Höchststrafe für erpresserischen Menschenraub - das Urteil beruhte allerdings nur auf Indizien. Danach wurde Oetker angefeindet, weil man glaubte, er sei mit dafür verantwortlich, dass Zlof unschuldig hinter Gittern sitze. Das machte Oetker wütend.
Die Lösegeldsuche
"Die einzige Möglichkeit war also, eine Verbindung zwischen dem Täter und dem Lösegeld herzustellen. Mein Alptraum war, dass er noch in den Genuss des Geldes kommen könnte." Richard Oetker hielt daher über Jahre engen Kontakt zum Leiter der damaligen Sonderkommission, gemeinsam ermittelten sie weiter. Oetker sprach von einer bemerkenswerten Zusammenarbeit: "Ich habe daraus gelernt, nicht verbissen, aber kontinuierlich ein Ziel zu verfolgen." 17 Jahre nach dem Urteil tappt Zlof mit 12,4 Millionen Mark in die Falle. Eine "enorme Genugtuung", sagte er 2011 in der FAZ.
Den Opferschutz
Seit den 1980er Jahren engagiert sich Richard Oetker für die Opferschutzorganisation Weißer Ring. "Ich habe erlebt, was es heißt, ein Opfer zu werden." Und er kennt die Einsamkeit in einem Verfahren, das sich hauptsächlich dem Täter widmet. Mit seinem Engagement wolle er anderen Opfern Mut machen und ihnen mehr Aufmerksamkeit verschaffen. "Mit meinem Namen und meinem Schicksal hoffe ich auch, die Bekanntheit des Weißen Rings zu steigern."
*Richard Oetker hat Interviewanfragen zu seiner Entführung abgelehnt. Seine hier veröffentlichen Zitate stammen aus seinem Vortrag beim Deutschen Präventionstag 2013 in Bielefeld.
Die Chronologie des Falles
- 14. Dezember 1976: Richard Oetker wird am Abend vor der Universität in Freising mit einer Waffe bedroht und entführt. Der Täter zwingt ihn in einem VW-Kastenwagen in eine kleine Kiste. Das Perfide: Laute Geräusche lösen in der Kiste einen Stromschlag aus.
- 15. Dezember 1976: Der Entführer berührt mit der Garagentür den Kastenwagen und löst damit einen Stromschlag aus. Durch seine Fesselung bricht sich Oetker den 7. und 8. Brustwirbel sowie beide Hüftgelenke. Aufgrund einer Lungenquetschung schwebt er in akuter Lebensgefahr.
- 16. Dezember 1976: Richards Bruder August übergibt gegen 13.45 Uhr in einem Untergeschoss des Münchner Stachus (Karlsplatz) 21 Millionen Mark. Die Zivilfahnder scheitern bei der Verfolgung des Täters an einer verschlossenen Stahltür. Oetker wird kurz nach 19 Uhr in einem Opel Commodore gefunden.
- 21. Dezember 1976: Oetker schwebt nicht mehr in Lebensgefahr.
- 6. Januar 1977: Die ersten 1.000-DM-Scheine aus dem Lösegeld tauchen in Österreich auf. Eine 90-köpfige Sonderkommission ermittelt.
- Dezember 1978: Inzwischen hat die Polizei mehr als 5.600 Spuren überprüft und 15.000 Zeugen vernommen, ohne Erfolg. Drei anfänglich festgenommene Männer stellen sich als unschuldig heraus.
- 29. Januar 1979: Ein Tausender aus dem Lösegeld taucht in einer Münchener Bank auf. Ein Angestellter kann den Kunden beschreiben. Es ist der entscheidende Tipp zur Aufklärung des Falles.
- 30. Januar 1979: Die Kripo verhaftet den dringend tatverdächtigen Dieter Zlof.
- 26. November 1979: Der Prozess gegen Zlof beginnt vor dem Landgericht München II.
- 9. Juni 1980: Der Angeklagte wird in einem Indizienprozess wegen erpresserischen Menschenraubs zur Höchststrafe von 15 Jahren Haft verurteilt.
- 26. Januar 1994: Nach Absitzen seiner gesamten Haftstrafe wird Zlof entlassen.
- Mai 1997: Scotland Yard lockt Zlof in eine Falle: Beim Versuch, 12,4 Millionen DM des Lösegelds umzutauschen, wird er in London festgenommen. Wegen versuchter Geldwäsche und Betruges muss er in England zwei Jahre in Haft.
- Richard Oetker konnte vier Jahre lang ausschließlich mit Gehstützen gehen und musste bis 1994 immer wieder operiert werden. Bis heute ist er gehbehindert.