Games-Kritik

„Nobody wants to die“ im Test: Mordermittlung mit Bioshock-Flair

Wer mit guten Krimis mit abgerockten Ermittlern und Retro-Futurismus etwas anfangen kann, wird mit dieser spielerisch seichten interaktiven Story ein paar packende Stunden verbringen.

Das Armaturenbrett, der Regen, die Frau: „Nobody wants to die“ trieft die Atmosphäre aus jedem Pixel. | © Critical Hit Games

21.07.2024 | 21.07.2024, 17:34

Der Flachmann ist immer griffbereit. Genauso wie die Tabletten, mit denen Detective James Karra die Erinnerungen an seine Geliebte betäubt. Obendrein geht auch noch ein riesiger Zugunfall auf seine Kappe. Noch dazu: ein Zugunfall, den er nicht überlebt hat. In der Welt von „Nobody wants to die“ ist das zwar kein großes Problem, denn der Geist kann im New York des Jahres 2329 wie in der Netflix-Serie „Altered Carbon“ einfach in einen neuen Körper umziehen. Das Trauma aber bleibt. Und der Ruf unter den Polizeikollegen ist auch ruiniert.

Und so schwant dem Detective Böses, als ihn sein alter Chief unter großzügiger Verwendung von allerhand Kraftausdrücken und Verweisen auf Karras Unfähigkeit gleich mal an einen so richtig leichten Fall setzt: den Tod des Erfinders der Unsterblichkeit.

Als Mord will der Chief das aber auf keinen Fall deklariert haben. Wir sollen nur das Bewusstsein des Verschiedenen sicherstellen. Zwei Sachen erschweren das: Erstens ist das Ichorite, das Überlebenselixier der Zukunft, im Hirn des Toten komplett zerstört. Der Mann ist also wirklich tot, was eigentlich niemandem mehr passiert. Und damit ist er zweitens definitiv keines natürlichen Todes gestorben. Karra ahnt, dass er der perfekte Sündenbock ist, wenn er den Mord öffentlich macht. Einen saufenden, halluzinierenden Nichtsnutz verspeist diese Welt zum Frühstück. Es ist also angerichtet für einen richtig schönen Krimi.

Wie spielt sich das?

Das New York des Jahres 2329 ist ein Neon-Alptraum aus Stahl und menschlichem Hochmut, ganz zu schweigen von wahnsinnig stimmungsvoll. - © Critical Hit Games
Das New York des Jahres 2329 ist ein Neon-Alptraum aus Stahl und menschlichem Hochmut, ganz zu schweigen von wahnsinnig stimmungsvoll. | © Critical Hit Games

Die ausladende Exposition sei uns verziehen. Aber „Nobody wants to die“ ist ein Spiel, das von seiner Atmosphäre lebt. Die wunderschöne und gleichzeitig abstoßende Vision von New York, 300 Jahre in der Zukunft, in der nur die Reichen über den Wolken leben können und die Armen die verseuchte Luft der unteren Ebenen atmen dürfen, haben die Entwickler von Critical Hit Games hervorragend hinbekommen.

Hier ermittelt man gerne den Korrupten und Mächtigen hinterher. Und genau das tun wir. Im Stile von Batman in der „Arkham“-Serie untersuchen wir vorrangig Tatorte mit unserer neuen Lieblingsdetektivbegabung: Wir drehen einfach die Zeit zurück. So rekonstruieren wir Geschehnisse, die wir dann in Echtzeit auf Beweise untersuchen können. Die kommentieren Karra und seine anfangs noch pflichtbewusste Co-Ermittlerin Sara anschließend und führen uns auf die Spur des nächsten Hinweises.

Das spielt sich im Kern immer wieder gleich unkompliziert, verpassen kann man eigentlich nichts. Dafür gibt es reichlich versteckte weitere Indizien, die uns in den Gesprächen neue Möglichkeiten eröffnen. So finden wir dort, wo der reiche Pinsel das Leben ausgehaucht hat, unerwartet eine reichlich unschöne Akte, unterschrieben vom Chief. Hat der also ein etwas zu ungutes Interesse an der „Kein-Mord-Theorie“?

Als wir ihn konfrontieren, rechtfertigt er sich, er müsse halt überall die Augen offenhalten. Schön: Die Option, die wir durch den Fund am Tatort freigeschaltet haben, wird im Dialogbaum durch ein sich öffnendes Schloss symbolisiert. Im Stile der Telltale-Spiele vermerkt „Nobody wants to die“ stets, wenn eine unserer Entscheidungen oder Äußerungen Auswirkungen auf die Geschichte hat – zum Beispiel auch, wenn wir uns entscheiden, den Tatort vor Eintreffen des FBI nicht wieder aufzuräumen, sondern alle Hinweise dazulassen. Dem Chief (dessen Akte wir auch hätten verbrennen können) wird’s jedenfalls nicht gefallen.

Und das reicht, um Spaß zu machen?

Einen Mord mitzuerleben, nachdem er passiert ist: Der Reconstructor macht’s für Detektiv Karra möglich. - © Critical Hit Games
Einen Mord mitzuerleben, nachdem er passiert ist: Der Reconstructor macht’s für Detektiv Karra möglich. | © Critical Hit Games

Spiele wie „Nobody wants to die” werden aufgrund fehlender Kämpfe und auch sonstiger Action gern als Walking-Simulatoren abgestempelt. Man erkundet, man quatscht, end of story. Das ist in diesem Fall aber überhaupt keine Negativauszeichnung. Denn die Story ist so gut inszeniert, dass wir uns auf der Spur nach dem Killer gern in das erzählerische Korsett zwängen, das nur nuancenhafte Möglichkeiten zur Abweichung gibt.

Die dreckige Neon-Welt, aus der nicht mal der Tod noch einen Ausweg bietet, mischt Art déco mit Cyberpunk-Elementen – und trifft den Ton zwischen Verfall und Dekadenz, der auch die Story durchzieht, hervorragend. Das Motiv des stillen Kampfes der Reichen gegen die Armen (und umgekehrt) ist zeitlos und funktioniert auch hier.

Auch die Ermittlungsarbeit selbst ist zwar spielerisch simpel, aber optisch klasse gemacht. Denn während wir Ereignisse rekonstruieren, können wir in ihnen vor- und zurückspulen – und sehen immer, was passiert. Zwischen den Einsätzen setzen wie die Ergebnisse unserer Arbeit in einem spaßigen Puzzle-Minispiel zusammen. Lässt man an einem vollständig wiederhergestellten Tatort noch einmal alle Ereignisse in der ganzen Schönheit der Unreal Engine 5 ablaufen, bekommt man eine Ahnung davon, wie es im Inneren eines Ermittlerkopfes aussehen muss.

Alles bloß Zufall, der Tod des Entdeckers der Unsterblichkeit? Es ist an uns, die Wahrheit aufzudecken. - © Critical Hit Games
Alles bloß Zufall, der Tod des Entdeckers der Unsterblichkeit? Es ist an uns, die Wahrheit aufzudecken. | © Critical Hit Games

Einziger Wermutstropfen: Es kann vorkommen, dass wir Hinweise schlicht zu früh entdecken – und dann bisweilen zu Entscheidungen gezwungen sind, was damit passieren soll, ohne wirklich zu verstehen, welche Auswirkungen damit verbunden sein könnten. Bei der beschriebenen Akte geht das noch klar, aber an anderer Stelle, die wir aus Spoilergründen verschweigen, hatten wir hinterher das Gefühl, nur geraten zu haben. Bei einer Geschichte, die man ansonsten gezielt beeinflussen kann und soll, ist das reichlich unangenehm. Trotzdem lohnt es sich, jede Ecke nach Hinweisen abzusuchen. Und sei es nur, um am Ende nicht als der saufende, halluzinierende Nichtsnutz dazustehen, für den uns diese wunderschöne gottverlassene Welt hält.

Unser Fazit zu „Nobody wants to die“

„Nobody wants to die“ ist, was draufsteht: eine interaktive Story. Wilde Actionsequenzen sucht man hier vergebens. Dafür macht es riesigen Spaß, den Ermittler zu geben und die viel zitierte Rekonstruktion der Ereignisse mal so richtig vor sich sehen zu können. Dass die Ereignisse einem festen Schema folgen, ist durchaus zu verschmerzen. Denn wir nehmen durch alle Hinweise und unser Verhalten in den Gesprächen einen (wenn auch manchmal nur hörbaren) Einfluss auf die Geschichte. Unsere Assistentin mit Dad Jokes zur Weißglut zu treiben, gehört jedenfalls jetzt schon zu den Höhepunkten unseres Spielejahres.

Wer also mal wieder einen richtig guten, noch dazu visuell beeindruckenden Detective-Thriller erleben möchte, macht mit dem überraschend günstigen „Nobody wants to die“ also nichts verkehrt – und geht angesichts einer Spielzeit von 6 und 10 Stunden auch keine übermäßige zeitliche Verpflichtung ein. Eine uneingeschränkte Kaufempfehlung!

„Nobody wants to die“ ist erhältlich für PC (Steam), Xbox (auch im Game Pass) und Playstation, empfohlen ab 18 Jahren und kostet rund 25 Euro.