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„Last Epoch“ im Test: Frisches Blut für das Rollenspiel-Genre

Das Entwicklerteam Eleventh Hour Games landet mit seinem Erstlingswerk einen ziemlich großen Wurf. Und das liegt nicht nur an dem guten Klassensystem.

Im Action-Rollenspiel „Last Epoch“ reisen wir durch die Zeit und erleben im letzten Zeitalter eine Welt, die sich langsam auflöst. | © Eleventh Hour Games

Sebastian Beeg
28.03.2024 | 28.03.2024, 16:31

USA, Brasilien, Marokko, Deutschland, Pakistan – das Entwicklerteam von Eleventh Hour Games ist über den gesamten Erdball verstreut. Die etwa 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des kleinen Indie-Studios arbeiten remote und seit Jahren an ihrem Erstlingswerk, ein Action-Rollenspiel mit dem Namen „Last Epoch“. Community, Fachpresse und Content Creator haben lange auf das Computerspiel gewartet, und oft wird der Vergleich zu Blizzards „Diablo IV“ gezogen. Dabei scheint es sich auf den ersten Blick um ein ungleiches Duell zu handeln. Hier der Großkonzern Activision Blizzard, der vergangenes Jahr von Microsoft für mehr als 60 Milliarden US-Dollar gekauft wurde und mit Tausenden von Mitarbeitenden an einer seit zwei Jahrzehnten etablierten Marke arbeitet, und dort ein Indiestudio, das seit 2018 an seinem ersten Game arbeitet.

Doch so eindeutig ist die Sache eben nicht. Denn „Diablo IV“ schwächelt. Vor allem das Endgame und die Charakterentwicklung haben Schwachpunkte, die Blizzard derzeit nicht imstande ist zu beheben. Hinzu kommen auch bei dem US-amerikanischen Entwickler-Urgestein Massenentlassungen, die bei der Branche momentan an der Tagesordnung liegen. Kann „Last Epoch“ diese Schwäche nutzen? Wir haben den Test gemacht.

Marty McFly mit Zauberstab

Dank des komplexen Klassensystems können wir uns einen Charakter bauen, der zu unserem Spielstil passt. Hier teilt unser Runenmeister gerade mächtig gegen lästige Riesenspinnen aus. - © Eleventh Hour Games
Dank des komplexen Klassensystems können wir uns einen Charakter bauen, der zu unserem Spielstil passt. Hier teilt unser Runenmeister gerade mächtig gegen lästige Riesenspinnen aus. | © Eleventh Hour Games

Wie in einem guten Rollenspiel üblich, beginnen wir mit der Charakter-Erstellung. Und die wird bei einigen Spielerinnen und Spielern sicherlich mit Schnappatmung einhergehen. Denn bei „Last Epoch“ wählen wir „nur“ eine Klasse aus, geben unserem Charakter einen Namen und starten gleich in unser Abenteuer. Das Spiel verzichtet, kaum zu glauben, komplett darauf, uns Möglichkeiten an die Hand zu geben, unseren Charakter mithilfe von Tätowierungen oder Frisuren zu individualisieren.

Die fünf zur Verfügung stehenden Klassen sind weitestgehend bekannt. Der Wächter ist der klassische Nahkämpfer, die Schurkin das entsprechende Fernkampfpendant, der Primalist ist einem Druiden sehr ähnlich, die Akolythin vergleichbar mit einer Totenbeschwörerin und der Magier spielt sich selbst. Interessant ist allerdings, dass wir uns im Laufe des Spiels für eine Meisterschaft entscheiden können.

Die Story von „Last Epoch“ lässt sich indes nicht so einfach wiedergeben. Denn im Verlauf des Spiels bewegen wir uns durch mehrere unterschiedliche Zeitebenen und müssen dort die Welt Eterra retten. Wobei „retten“ in den jeweiligen Jahrhunderten immer eine andere Bedeutung hat. Mal geht es um einen Konflikt zwischen Göttern, mal um die sogenannte Leere, die, ähnlich wie das Nichts in Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, dabei ist, die Welt zu zerstören.

Doch das eigentliche Spiel beginnt im Prinzip erst nach der gut 20-stündigen Kampagne. Denn im anschließenden Endgame geht es genretypisch in unterschiedlichen Herausforderungen darum, den eigenen Charakter weiter zu leveln. Und das, so viel sei jetzt schon verraten, spielt sich mit seinen Monolithen, Dungeons und Arenen, letztere dienen als eine Art Rangliste, deutlich motivierender als in „Diablo IV“.

Fachkräftemangel? Nicht auf Eterra!

Jede Fertigkeit hat ihren eigenen Talentbaum. Wir haben die Wahl, wie wir die Fertigkeiten jeweils entwickeln. - © Eleventh Hour Games
Jede Fertigkeit hat ihren eigenen Talentbaum. Wir haben die Wahl, wie wir die Fertigkeiten jeweils entwickeln. | © Eleventh Hour Games

Was „Last Epoch“ an Schnickschnack bei der Charaktererstellung weglässt, scheint es wiederum bei der Charakterprogression sinnvoll zu investieren. Denn die Meisterschaften unterscheiden sich zum Teil frappierend voneinander. Den Magier etwa können wir zu einem Runenmeister ausbilden, der mächtige Elementar-Magie beherrscht. Oder wir verbinden Magie und Nahkampf und machen aus unserem Charakter eine schlagkräftige Zauberklinge. Jeder Klasse stehen jeweils drei dieser Meisterschaften zur Verfügung.

Insgesamt gibt es mehr als 120 Talentbäume, die den Klassen zur Verfügung stehen. Dabei hat sich Eleventh Hour Games ein stimmiges System ausgedacht. Denn bei der Charakterentwicklung wird zwischen Passiven und den Fertigkeiten unterschieden. Haben wir genügend Erfahrungspunkte gesammelt und steigen um ein Level auf, investieren wir Punkte in unseren Passivenbaum. Dadurch erhalten wir etwa mehr Lebenspunkte oder können schneller zaubern. Erreichen wir bestimmte Levelstufen, schalten wir zusätzlich Fertigkeiten frei.

Bis zu fünf von diesen Fertigkeiten legen wir uns auf unsere Aktionsleiste. Mit diesen schnetzeln wir uns dann durch Eterra. So weit, so bekannt. Doch der Clou daran ist, dass jede Fertigkeit noch einmal ihren eigenen Talentbaum besitzt. Wählen wir etwa als Magier den Feuerball, dann können wir im Laufe des Spiels immer wieder Talentpunkte in diese Fertigkeit investieren, und das bedeutet in diesem Fall nicht, den Feuerball schneller zu zaubern oder mit ihm mehr Schaden zu verursachen.

Wir können den Feuerball fundamental verändern: Aus ihm einen Zauber mit mehreren Geschossen machen, die ihrerseits Schaden anrichten. Oder wir skillen den Feuerball so, dass er künftig Gegner durchschlägt und weitere Gegner trifft. Bei einem anderen Zauber, der vulkanischen Kugel, können wir uns dafür entscheiden, ob wir daraus eine besonders mächtige Flammenkugel machen, die alles auf ihrem Weg verbrennt. Oder wir skillen in eine ganz andere Richtung und machen daraus eine Eiskugel, die Splitter verschießt und Gegner einfriert. Oder, oder, oder.

Zugegeben: Das Talentsystem ist komplex. Bei jedem Punkt überlegen wir uns minutenlang, wo wir diesen am besten investieren, um den größtmöglichen Nutzen zu erzielen. Das System ist aber keinesfalls kompliziert. Die Angaben zu den Passiven und den Fertigkeiten sind immer eindeutig formuliert. Und auch wenn wir mal eine „falsche“ Entscheidung treffen: Wir können jederzeit die investierten Punkte zurücknehmen und neu verteilen oder gar eine ganz andere Fertigkeit entwickeln. Damit können wir immer auf die derzeitigen Anforderungen reagieren oder mit unserer Meisterschaft herumexperimentieren.

Wir bewegen uns in einer Loot-Filterbubble

Wichtig in einem Action-Rollenspiel ist freilich auch die Loot-Spirale. Und die funktioniert bei „Last Epoch“ – wenn auch auf eine andere Art und Weise. In anderen Spielen droppen Gegner Waffen und Gegenstände, die dann auf ihren Nutzen hin untersucht werden. Hat eine Axt bessere Attribute als das ausgerüstete Schwert, werden die Waffen ausgetauscht und die alte Klinge wird beim Händler verkauft. Danach geht die Monsterhatz weiter.

Vielleicht finden wir dann einen besseren Helm oder bessere Stiefel. Bei „Last Epoch“ passiert das auch, ist aber eigentlich nur Nebensache. Denn streng genommen sind wir nur auf Gegenstände mit bestimmten Attributen aus. Die finden wir mithilfe des Beutefilters. Hier tragen wir schlichtweg ein, was für uns interessant ist. Fortan werden die überflüssigen Gegenstände ausgeblendet. Großartig! Wir müssen nun nicht mehr alle zwei Minuten zum Händler laufen, weil wir drölfzig immer gleiche Dolche verkaufen müssen, um wieder Platz im Inventar zu schaffen.

Das Crafting spielt eine besondere Rolle bei „Last Epoch“. Dabei müssen wir besonders auf das Schmiedepotential (eng.: Forging Potential) achten. Sinkt der Wert auf 0, können wir den Gegenstand nicht mehr bearbeiten. - © Eleventh Hour Games
Das Crafting spielt eine besondere Rolle bei „Last Epoch“. Dabei müssen wir besonders auf das Schmiedepotential (eng.: Forging Potential) achten. Sinkt der Wert auf 0, können wir den Gegenstand nicht mehr bearbeiten. | © Eleventh Hour Games

Neben diesen gefilterten Gegenständen sind wir auf Materialien aus, die die Gegner ebenfalls fallen lassen oder die wir in Truhen finden. Mit diesen Materialien lassen sich Waffen und Ausrüstungsgegenstände in der Schmiede verbessern. Ein paar Prozentpunkte auf die Mana-Regeneration hier und zwei Punkte auf Intelligenz dort, und schon lässt es sich mit dem ausgerüsteten Stab gleich besser zaubern. Damit erschaffen wir uns einen Gegenstand, der auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist und sind nicht so sehr davon abhängig, was wir auf unserer Reise so finden. Das System hat allerdings einen Haken: das Schmiedepotenzial. Das ist ein Wert, den Gegenstände besitzen und der als eine Art Währung eingesetzt wird. Wollen wir den Gegenstand in der Schmiede verändern, dann sinkt das Schmiedepotenzial. Ist der Wert auf 0 gesunken, können wir den Gegenstand nicht mehr verändern.

Das führt zwangsläufig dazu, dass wir uns immer genau überlegen müssen, ob und wie wir unsere Gegenstände verändern wollen. Gleichzeitig müssen wir nicht darauf hoffen, dass Gegner einen bestimmten Gegenstand fallen lassen.

Einen neuen Weg geht das Spiel auch gegen Ende der Kampagne. Dann haben wir die Möglichkeit, uns einer von zwei grundverschiedenen Fraktionen anzuschließen. Treten wir dem Zirkel des Schicksals bei, dann finden wir mehr und seltenere Beute bei Gegnern. Zudem können wir aus einer Fülle an Zufallsquests wählen, deren Erfüllung uns ebenfalls mehr Waffen und Gegenstände beschert. Die so verdiente Beute können wir allerdings nicht mit anderen Spielerinnen und Spielern tauschen. Außerdem sind die Gegenstände vom Basar der zweiten Fraktion, der Händlergilde, ausgeschlossen.

Bei der Händlergilde erhalten wir keinen Bonus oder Quests, um mehr Beute zu finden. Sie bietet stattdessen ein klassisches Auktionshaus, in dem wir Beute anbieten oder ersteigern und die Monsterjagd eher als wirtschaftliches Geschäftsmodell praktizieren können. Dieses System ist so simpel wie genial, weil es zwei unterschiedliche Spielertypen abholt und langfristige Motivation gewährleistet.

Von hinten durch die Brust ins Auge

Wir haben uns bereits weiter vorne im Text daran versucht, die Story von „Last Epoch“ zusammenzufassen. Tatsächlich ist das nicht so einfach. Die Idee, dass wir uns durch verschiedene Epochen bewegen, Veränderungen der Welt beobachten und beeinflussen, ist ohne Frage ziemlich cool und innovativ. Wir geben aber offen zu, dass wir bei weitem nicht alles verstanden haben, was da rund um unseren Runenmeister passiert ist. Und das ist nicht nur persönliches Pech. Die Story ist wirklich dünn und ein richtiger Schwachpunkt des Spiels. So beginnt „Last Epoch“ etwa damit, dass wir einer Fraktion, den Keepern, helfen sollen oder vielmehr: wollen.

Warum wir allerdings so altruistisch in einer sich im Krieg befindenden Welt handeln, wer die Keeper sind, was sie machen, was wir machen – das alles wird leider nicht geklärt. Spärliche Informationen gibt es lediglich in kurzen Textfenstern, die bisweilen lieblos präsentiert werden. Da verschenkt Eleventh Hour Games ungemein an Potential.

Zumal die Erzähl- und Darstellungsweise des Games aus unserer Sicht auch ganz konkrete negative Auswirkungen auf das Gameplay hat. Denn dadurch, dass wir uns in verschiedenen Epochen bewegen, müssen wir uns immer wieder neu orientieren, in welcher Zeit wir uns gerade befinden und welche Quest wir wo zu erfüllen haben. An der einen oder anderen Stelle kann man da schon leicht durcheinander kommen. Und leider ist die Karte an dieser Stelle wenig hilfreich. Dabei soll die uns ja gerade bei der Orientierung helfen. Doch vor allem die Minimap im oberen rechten Bildschirmbereich zeigt lediglich einen kleinen Teil der Karte. Erst nach einem Blick in ein Forum haben wir gecheckt, dass wir mit einem Hotkey eine transparente Overlaymap für „Last Epoch“ gibt. Mit der fällt die Orientierung auf der Karte deutlich leichter, lassen sich wichtige Wegpunkte, Questziele oder Portale einfacher finden.

Erst nach einem Blick in ein Forum haben wir herausgefunden, dass es eine transparente Overlay-Map gibt, die die Orientierung um einiges erleichtert. - © Eleventh Hour Games
Erst nach einem Blick in ein Forum haben wir herausgefunden, dass es eine transparente Overlay-Map gibt, die die Orientierung um einiges erleichtert. | © Eleventh Hour Games

Zudem spielen sich die Kämpfe nicht so rund wie in anderen Action-Rollenspielen. Wir hatten eher das Gefühl, dass es ein bisschen schwerfälliger läuft. Das mag daran liegen, dass das Entwicklerteam darauf verzichtet hat, eine Ausweichrolle einzubauen, mit der wir gegnerischen Schlägen aus dem Weg gehen können. Bis wir uns daran gewöhnt hatten, hat unser Charakter ein paar Mal das Zeitliche gesegnet.

Außerdem hatten wir immer wieder Probleme mit der Stabilität des Games. Öfter haben wir nun schon während des Spiels die Verbindung zum Server verloren und sind rausgeflogen. Wir hoffen, dass das Entwicklerteam da zeitnah nachsteuert. Glück im Unglück: „Last Epoch“ bietet neben dem Online- auch einen guten alten Offlinemodus, der ganz ohne dieses Internet auskommt.

Fazit

Um eines klar zu stellen: „Last Epoch“ ist nicht „Diablo IV“. „Last Epoch“ macht viele Dinge anders und hat genügend erfrischend innovative Ideen, um viel mehr zu sein als bloß ein „Diablo“-Klon. Dazu gehört auch die verworrene Kampagne. Alleine der Ansatz, dass wir der Story über mehrere Jahrhunderte aktiv folgen, ist lobenswert, weil sich das Studio etwas traut und ausgetretene Pfade verlässt.

Vor allem aber haben wir das Gefühl, als Spieler ernst genommen zu werden. Die Vielfalt an Meisterschaften und Fertigkeiten erlaubt es uns, einen Charakter nach unseren Vorstellungen zu bauen. Zugeschnitten auf unseren Spielstil. Das Spiel hält dabei aus unserer Sicht immer die richtige Balance zwischen Einsteigerfreundlichkeit und Expertenspiel.

Wenn das Entwicklerstudio weiterhin die Tugenden des Spiels verbessert und an der einen oder anderen Stellschraube dreht, dann werden wir noch lange von dem Game hören. Eines ist aber sicher: ein gutes Action-Rollenspiel ist „Last Epoch“ schon jetzt!

„Last Epoch“ ist erhältlich für PC und kostet ca. 34 Euro. Wir haben die PC-Version auf Steam getestet.