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Koop-Shooter "Anthem" im Test: Wie Iron Man mit angezogener Handbremse

Die für starke Storys bekannte Spieleschmiede Bioware steigt ins Multiplayer-Geschäft ein - verspricht aber auch Solisten ein gutes Spiel

Vier Klassen bietet das Spiel, je nach Spielstil wählen wir unseren persönlichen Javelin. | © EA/Bioware

Björn Vahle
26.02.2019 | 28.02.2019, 10:01

Mit "Anthem" wagt sich Entwickler Bioware, sonst für storylastige Meisterwerke wie Mass Effect bekannt, in den Multiplayer-Markt. Idealerweise zu viert sollen wir in schicken Raumanzügen einen fremden Planeten erkunden, Ausrüstung sammeln, Raids bestehen - aber eben auch eine gute Geschichte erleben. Ob das funktionieren kann?

Worum geht's?

Die Menschen haben in ferner Zukunft einen fremdartigen, äußerst instabilen Planeten kolonisiert. Auf Bastion hat sich eine alte Götterrasse, die "Shaper", beim Erschaffen ausgetobt. Doch sie hinterließen ihr Werk unfertig, und nun ragen überall Ruinen aus der dschungelartigen Umgebung. Was hat die Shaper also vertrieben? Was hat es mit der namensgebenden Anthem of Creation (Hymne der Schöpfung) auf sich, die die Shaper zum Erschaffen dieser Welt nutzten, und die ohne ihre Kontrolle immer mal wieder zu fürchterlichen Katastrophen führt?

Ein wenig erinnerte uns das alles an die Prämisse von "Horizon: Zero Dawn", wo wir ebenfalls in der Zukunft dem Mysterium einer untergegangenen Zivilisation nachspürten. Die Ausgangssituation von "Anthem" ist potenziell ähnlich spannend, die Geschichte soll man sowohl allein als auch in der Gruppe ohne Abstriche erleben können.

Was tun wir im Spiel?

Fort Tarsis, unsere eindrucksvolle Basis und zugleich Ausgangspunkt aller Missionen. - © EA/Bioware
Fort Tarsis, unsere eindrucksvolle Basis und zugleich Ausgangspunkt aller Missionen. | © EA/Bioware

Der Kern des Gameplays ist aus anderen Koop-Titeln bekannt. Möglichst in der Gruppe erfüllen wir in der bildhübschen Spielwelt Missionen, sammeln immer bessere Ausrüstung, werden immer mächtiger. Die Hauptrolle spielt dabei unser Kampfanzug, der Javelin, mit dem wir nicht nur laufend, sondern auch fliegend die Welt erkunden dürfen.

Missionen nehmen wir in Fort Tarsis entgegen, der Hauptstadt, in der sich jeder Spieler einzeln bewegt. Hier können wir auch unseren Javelin aufrüsten und ihn entweder unserem Solo-Spielstil oder unserer Aufgabe in der Gruppe anpassen. Bullige "Tanks", schnelle "Rogues", omnibegabte "Ranger" - das Spiel lässt uns jederzeit die Freiheit, die Klasse anzupassen.

Für einen einzelnen Kampfanzug können wir sogar verschiedene "Loadouts" austüfteln, zwischen denen wir je nach Anforderung der Missionen wechseln können. Zusätzlich gibt's knallige Fertigkeiten, die zunehmend wichtiger werden - und sich in der Gruppe zu starken Combos bündeln lassen. Cool!

Story-Missionen und Einzelaufträge können wir, wie erwähnt, auch solo bestreiten. Dann regelt das Spiel die Zahl der Gegner herunter. Für die sogenannten Festungen, im Grunde Raids, brauchen wir aber zwingend Mitspieler. Wer keine Freunde mitbringt, kann auf Matchmaking zurückgreifen. Storyrelevant sollen diese Aufträge nicht sein, allerdings entgehen Solisten dann ein paar der beeindruckendsten Levels und Boss-Gegner.

Was funktioniert gut?

Unseren Anzug verbessern wir mit neuer Ausrüstung. Die Motivation hakt hier allerdings, weil wir etwas zu selten Gegenstände finden, die uns wirklich weiterbringen. - © EA/Bioware
Unseren Anzug verbessern wir mit neuer Ausrüstung. Die Motivation hakt hier allerdings, weil wir etwas zu selten Gegenstände finden, die uns wirklich weiterbringen. | © EA/Bioware

Klare Antwort: Die Kämpfe. Und für den Autor als erklärtem Einzelspieler überraschend: Die Kämpfe im Team. Denn egal ob Schusswechsel mit bewaffnetem Gekröse, riesigen Titanen oder Raid-Bossen: Nichts ist so erfüllend wie gut getimte Fertigkeiten-Combos, die den Gegnern satte Stücke aus dem Lebensbalken schlagen.

Und: "Anthem" ist ein Loot-Shooter, wir kämpfen für die Beute, die Gegner fallen lassen. Also schmeißen wir uns natürlich in so viele Gefechte wie möglich. Und das Effektfeuerwerk, wenn sich verschiedene Klassen mit Feuer, Eis oder Blitz gegenseitig unterstützen, macht nicht nur optisch was her. Diese Mechanik hat Bioware sehr spaßig hinbekommen.

Außerdem ist die Spielwelt wunderbar entworfen. Die grün überwucherten Felslandschaften samt Wasserfällen, Seen und Höhlen sind eine Augenweide. Zeit zum Verweilen und Bewundern haben wir zwar selten, doch wenn sich einmal ein Panorama eröffnet, dann bleibt einem nicht selten die Spucke weg.

Was hat uns weniger gefallen?

Das spaßigste an Anthem sind ganz klar die Kämpfe. An einigen anderen Punkten hält das Spiel dem Vergleich mit der Konkurrenz aber nicht Stand. - © EA/Bioware
Das spaßigste an Anthem sind ganz klar die Kämpfe. An einigen anderen Punkten hält das Spiel dem Vergleich mit der Konkurrenz aber nicht Stand. | © EA/Bioware

Leider einiges, und leider einiges, das den Spielspaß deutlich reduziert. Zum einen ist das Missionsdesign nicht allzu abwechslungsreich. Die Struktur der Aufträge ist oft dieselbe: Starte Expedition in Fort Tarsis - fliege mehrere Checkpoints ab - drücke einen oder mehrere Knöpfe - erledige alle plötzlich auftauchenden Gegner - fliege weiter/kehre nach Fort Tarsis zurück.

Und nicht nur in unserer Erfahrung ist die Beute für dieses Schema F dann leider wenig befriedigend. Wir haben immer mal wieder nützliche Erweiterungen und Waffen gefunden, epische oder legendäre Gegenstände sind auch in der Erfahrung anderer Tester allerdings ein bisschen zu selten. Das nagt an der Motivation.

Und das kennt man von Bioware auch anders. Entscheidungen, die die Welt oder die Story beeinflussen, so wie man das von den Entwicklern gewohnt ist, gibt es außerdem praktisch keine. Und so ist auch die (in Zwischensequenzen optisch eindrucksvoll präsentierte) Story eher mittelmäßig. Unser Gegenspieler, der unbedingt die Hymne der Schöpfung kontrollieren will, macht kaum Eindruck, wenige Charaktere (unserer eingeschlossen) entwickeln wirklich Tiefe.

Außerdem gibt es eine Stelle, die uns zwingt eine bestimmte (recht hohe) Zahl von stupiden Aktionen auszuführen (x Nahkampfangriffe, soundsoviele getötete Feinde von Art y), um mit der Story fortfahren zu können. Das ist Gamedesign, das den Namen eigentlich kaum verdient. Oben drauf kommen durch den Wechsel zwischen Außenwelt und Fort Tarsis nervig viele und oft auch recht lange Ladezeiten, die ein Patch zumindest etwas verkürzt hat.

Und das Endgame, also das nach Abschluss der Kampagne? Ehrlicherweise haben wir es zum Zeitpunkt dieses Artikels noch nicht so weit geschafft. Die relativ einhellige Meinung der anderen Tester: Mehr vom gleichen, nur schwerer und etwas größer. Da sind die direkten Konkurrenten "Destiny" und "The Division" mittlerweile einfach weiter.

Fazit:

"Anthem" ist kein schlechtes Spiel. Die Hauptmechanik, das Kämpfen, macht definitiv Laune. Aber "Anthem" ist ein schwaches Spiel für die Verhältnisse, die Fans von Bioware gewohnt sind. Und "Anthem" könnte ein deutlich besseres Spiel sein, wäre es erst in einem Jahr erschienen. Dann wäre den Entwicklern vielleicht Zeit geblieben, abwechslungsreichere Missionen und ein besseres Loot-System zu entwerfen und nicht so sehr aufs Grinden zu setzen.

Auch aus seiner bildhübschen Welt macht "Anthem" zu wenig. Überall finden wir Ruinen, Andeutungen von Geschichten, aber der Spielfluss und auch der Erzählstil lassen selten Atmosphäre aufkommen. Bastion ist toll entworfen, bleibt aber zu oft Kulisse und verrät uns zu wenig über sich. Da wäre einfach mehr drin gewesen.

Es folgt das einzige Aber, das das Blatt noch wenden könnte: "Anthem" soll laut Bioware noch zehn Jahre mit Content versorgt werden. Dass sich die Inhalte verbessern, das Spiel mehr Spaß macht, weil es seine launigen Seiten und das Potenzial der Entwickler beim Storytelling besser nutzt, ist also zumindest möglich. Sollte das allerdings zu lange dauern, wird es mit den zehn Jahren Lebenszeit für "Anthem" sehr wahrscheinlich nichts werden.

Anthem ist am 22. Februar für PC, Playstation 4 und Xbox One erschienen.