Bielefeld. Der Bielefelder Verein Digitalcourage hat zum 19. Mal die Big Brother Awards an Datensünder aus Politik, Wirtschaft und anderen Bereichen verliehen.
Ausgewählt wurden die Preisträger von Rena Tangens und Künstler padeluun von Digitalcourage, Frank Rosengart vom Chaos Computer Club, Publizist Rolf Gössner, Datenschutzexperte Thilo Weichert und Rechtsexperte Peter Wedde.
Die Verleihung wurde von Journalistin Golineh Atai moderiert. Die Preisträger im Überblick:
Peter Beuth (CDU), Hessens Innenminister

Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) erhält den Big Brother Award in der Kategorie Behörden und Verwaltung. Beuth erhält den Negativpreis, weil er bundesweit erstmalig eine Analysesoftware der CIA-nahen Firme Palantir angeschafft hat.
Die Hauptkritik der Jury: Die US-Firma erhält über den Betrieb der Software Zugang zum Datennetz der hessischen Polizei und kann damit Massendaten aus polizeieigenen und externen Quellen verknüpfen und analysieren. Ursprünglich heißt die Analysesoftware "Gotham". Nachdem sie an die Bedürfnisse der hessischen Polizei angepasst wurde, trägt sie den Namen "Hessen-Data". Gegründet wurde die Firma Palantir 2004 von Milliardär Peter Thiel, mit finanzieller Unterstützung der CIA. Palantir gilt als Schlüsselfirma in der Überwachungsindustrie. Da Palantir eine US-Firma ist, müssen im Fall einer Anordnung alle Informationen über Nicht-US-Bürger an US-Geheimdienste übermittelt werden.
Die neue Software ermöglicht zudem eine Verknüpfung von Polizeidaten der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr. Erstmals können außerdem auch Informationen aus den sozialen Medien mit polizeilichen Daten abgeglichen werden. Das Fazit von Laudator Rolf Gössner: "Mit "Hessen-Data" geht das schwarz-grün regierte Hessen einen weiteren großen Schritt in Richtung Kontroll- und Überwachungsstaat".
Zeit Online

In der Kategorie Verbraucherschutz wird der Online-Auftritt der Zeit mit einem Big Brother Award ausgezeichnet. Zum einen kritisiert die Jury die Praktik von Werbetrackern und dem sogenannten Facbeook-Pixel. Zum anderen geht es um das Projekt "Deutschland spricht". Laudator padeluun kritisiert, dass zeit.de für die Erhebung der Daten der Umfrage Google-Dienste genutzt hat. Somit seien politische Ansichten von Lesern auf Servern in den USA gespeichert worden. Zeit.de habe sich das Nachfolgeprojekt von "Deutschland spricht" zudem von Google finanzieren lassen, sagt padeluun. Lassen sich Medien von Datenkraken wie Google unterstützen, gehe der kritische Blick von Journalisten verloren, bemängeln die Juroren. Der Preis an zeit.de sei letztlich auch als allgemeine Medienschelte zu verstehen.
Ancestry.com

Der Big Brother Award in der Kategorie Biotechnik geht an die Firma ancestry.com mit ihrer Niederlassung in München. Das Unternehmen verleite Menschen mit Interesse an Familienforschung dazu, ihre Speichelproben einzusenden, sagt Laudator Thilo Weichert. Für den Kunden sei nicht nachzuvollziehen, an welche Unternehmen oder Regierungsbehörden seine sensiblen Daten gingen. Und sie würden sogar an die kommerzielle Pharmaforschung verkauft.
Nutzer können sich für knapp 90 Euro im Internet ein Ancestry-Konto einrichten, eine Speichelprobe an ein Labor schicken und sechs bis acht Wochen später die Ergebnisse abrufen. Wer jedoch seine Einwilligung abgebe, habe keine Kontrolle mehr darüber, wer was und wo damit forscht, kritisiert Weichert. Die eigenen Daten könnten in die Hände von akademischen Einrichtungen, Non-Profit-Organisationen, gewinnorientierten Unternehmen sowie Regierungsbehörden landen. Und das "in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern".
Zudem, so prangert Weichert an, prüfe die Firma nicht, ob eine Person berechtigt sei, eingesendete Speichelproben untersuchen zu lassen. So könnten beispielsweise Vaterschaftstests durchgeführt werden, womit man sich nach deutschem Recht strafbar macht.
Precire Technologies GmbH

Die Aachener Firma Precire Technologies erhält den Award in der Kategorie Kommunikation. Das Unternehmen hat eine Sprachanalyse-Software entwickelt, die nach eigenen Aussagen "sprachliche und schriftliche Kommunikation analysieren" und "daraus objektive psychologische Schlüsse ziehen" kann. Nach Angaben des Unternehmens soll Precire mit mehr als 100 Kunden zusammenarbeiten. Anwendung findet die Sprachanalyse beispielsweise zur Vorauswahl von Bewerbern in Einstellungsverfahren und zur Analyse von Kunden in Callcentern.
Einer der Kritikpunkte von Rena Tangens, der Laudatorin des Preisträgers, liegt darin, dass das Unternehmen die Software anderen Unternehmen anbietet, aber alle Daten selbst sammelt. Tangens moniert auf Grundlage ihrer Recherchen außerdem, dass die Auswertung nicht wissenschaftlich sei, auch wenn sie damit werbe. Es gebe keine Belege für den direkten Zusammenhang zwischen Sprachparametern und beruflicher Leistung. Precire verstricke sich zudem in Widersprüche, wenn das Unternehmen einerseits behaupte, jeder Mensch habe eine einzigartige Sprach-DNA, die Auskunft über Talente und Fähigkeiten gebe. Andererseits biete Precire als zweiten Geschäftsbereich jedoch selbst eine App zum Trainieren der Sprache an - Personalentwicklung durch Sprachtraining also. Die Verwendung der Software zur Analyse geeigneter Führungskräfte würde zudem Diversität in den Vorständen verhindern, kritisiert Tangens. Die Verfahren würden lediglich auf dem Abgleich des Sprachgebrauchs von aktuellen DAX-Managern basieren. Zum Einsatz kommt die Software des Unternehmens unter anderem bei Randstad, HDI, Gothaer, Fraport, dem Handelsblatt, der KPMG, RWE, der DAK, Accor, IBM und Vodafone.
Im Callcenter funktioniere die Technik des Anbieters so, dass diese die Sprache von Anrufern aufzeichnen und sie an die Server von Precire weiterleiten. Dort werde die Sprache in Echtzeit analysiert und den Agenten vorgeschlagen, wie sie mit dem Kunden weiter vorgehen soll, erläutert Tangens. Diese Analyse sei nicht nur unethisch - sondern auch illegal. Sie verstoße gegen das Telekommunikationsgeheimnis. Digitalcourage fordert die Gesetzgeber deshalb dazu auf, Sprachanalysen für solche Zwecke zu verbieten.
Europäisches Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI)

Der Big Brother Award in der Kategorie Technik geht in diesem Jahr an das "Technical Committee CYBER" beim Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI), vertreten durch den Chairman Alex Leadbeater. Laudator Frank Rosengart mahnt dessen Bemühungen an, das "Enterprise Transport Security"-Protokoll (ETS) als Teil des neuen technischen Standards für die Verschlüsselung im Netz festzulegen und damit eigentlich sichere Verbindungen mit einer Art Sollbruchstelle auszustatten. Konkret geht es um die Entwicklung des Protokolls "Transport Layer Security (TLS) 1.3" - einem System für verschlüsselte Verbindungen im Internet. Das ETSI entwickelte eine spezielle Version dieses TLS - namentlich ETS - das einen Nachschlüssel enthält, mit dem Verbindungen nachträglich entschlüsselt werden können. Falle dieser Nachschlüssel nun Kriminellen in die Hände, könnten die zum Beispiel Passwörter und andere sensible Informationen abgreifen. Wer diesen speziellen Standard also verwende, bringe damit Nutzer in die Gefahr, dass ihre Kommunikation ohne ihr Wissen ausspioniert wird, so Rosengart.
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