
Bielefeld. 24 Millionen Menschen nutzen in Deutschland Video-on-Demand, sagt eine Statistik von Goldmedia. Streamingdienste wie Netflix und Amazon, aber auch Online-Mediatheken von ARD, ZDF oder Privatsendern sind damit im Fernseh-Mainstream angekommen. Wie entwickelt sich das weiter? Und wird es irgendwann womöglich gar kein "klassisches" Fernsehen mehr geben? Eine Spurensuche.
Die beginnt bei der Frage, wer eigentlich heute was wo schaut. Das haben die Datensammler von Statista Anfang 2016 in einer Umfrage zu ermitteln versucht.
Unter den bis 29-Jährigen nutzen vierzig Prozent bereits "überwiegend" Streamingdienste. Dennoch liegt in allen Altersgruppen auch der Anteil derjenigen, die regulär das schauen, was die Sender anbieten, bei mehr als 40 Prozent. Die Entscheidung für die eine Art des Fernsehens bedeutet also nicht zwangsläufig den totalen Verzicht auf die andere Art.
94 Millionen Netflix-Abonnenten
Lediglich bei den 50- bis 69-Jährigen hält sich das Interesse an Streamingangeboten in deutlichen Grenzen. Das passt zu einer Bitkom-Studie unter 1.007 Streaming-Nutzern von Ende 2016. Darin hatte jeder vierte Befragte angegeben, auf klassisches Fernsehen verzichten zu können.
Und so steigen die Nutzerzahlen der Streamingdienste. Netflix hat nach eigenen Angaben Ende 2016 weltweit 93,8 Millionen zahlende Abonnenten gehabt. Amazon verzeichnete Mitte 2016 laut Statista immerhin 17 Millionen Prime-Kunden allein in Deutschland, für die das Video-Angebot inklusive ist. Diese Zahlen müssen die Konzerne für ihre Aktionäre herausgeben, da sie an der Börse notiert sind.
Genaueres zur Nutzung geben beide aber nicht preis. Man äußere sich nicht "zu Angaben von nutzerbezogenen Daten", heißt es von Amazon auf Anfrage von nw.de. Wer was bei Netflix guckt, ist ebenso unbekannt. Allerdings sind laut Statista 42 Prozent der deutschen Onliner zwischen 16 und 24 Jahren Prime-Nutzer. Welche Zielgruppe das Angebot anspricht, ist also klar.
Klassisches TV hat andere Aufgaben
Und doch schauen laut Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) die Deutschen im Schnitt immer noch vier Stunden Fernsehen am Tag. "Der klassische Konsum über das was früher die Rundfunkdienste waren, ist noch immer der dominante", sagt deshalb auch Ralf Adelmann, Fernsehwissenschaftler am Institut für Medienwissenschaften der Uni Paderborn. Die absolute Zahl der Menschen, die Streamingdienste nutzten, sei im Vergleich zu den Zuschauern des klassischen Fernsehens "Peanuts".
Das hängt ihm zufolge in Deutschland auch damit zusammen, dass bestimmte Sender hierzulande staatlich verankert sind. Die öffentlich-rechtlichen Sender sollen zur politischen Information und Meinungsbildung beitragen, werden durch Beiträge der Bevölkerung finanziert, daher ist ihre Existenz bis auf weiteres ohnehin gesichert. "So sehr man das Programm auch kritisieren mag, diese Konstanz ist für die Zuschauer auch ein Anker", erklärt Adelmann.
Außerdem habe das klassische Fernsehen die Funktion, "aktuelle Information relativ schnell zu verteilen". Das Interesse an Nachrichtensendern, aber auch ARD und ZDF steige bei spontanen Live-Berichten zu aktuellen Ereignissen sofort an. Das kann und will Streaming in der Form bisher nicht leisten.
Streaming macht Privatsendern Konkurrenz
Wenn Streaming im Gegensatz dazu also eher das Bedürfnis nach Unterhaltung bedient, ist es dann nicht besonders eine Gefahr für Privatsender mit ähnlichem Fokus? Adelmann verweist auf die USA: Dort stelle das Bezahlfernsehen von HBO mittlerweile exakt diese Konkurrenz dar. "Die Leute sagen, da gibt's die besten Serien, dafür bezahle ich sogar." Privatsender müssten deshalb auch hierzulande aufpassen, "dass ihnen da nicht der Markt abgegraben wird", sagt Adelmann.
Hinzu kommt, dass die Streamingdienste zunehmend lokale Inhalte anbieten. Deutsche TV-Aushängeschilder wie Matthias Schweighöfer tauchen nun auch in Serien von Streamingdiensten wie Amazon auf. Die Privatsender verlieren damit Alleinstellungsmerkmale. Das zerstört über Nacht keine Senderfamilien, denn natürlich gibt es noch genug Menschen, die auch das Nachmittagsprogramm mit Scripted Reality Serien schauen.
"Koma-Fernsehen" ist salonfähig
Dennoch verfestigt sich nicht nur beim Publikum der Eindruck, das insbesondere kreativ bei den Streaminganbietern mehr möglich ist. Immer häufiger tauchen Hollywood-Schauspieler in Serienproduktionen auf. Das Streaming hat es sogar geschafft, eine eigene Kultur um sich herum zu entwickeln. Man schaut viel, man schaut lange. Das "Koma-Fernsehen" (englisch: "Binge-Watching") ist nicht mehr negativ besetzt, sogar elitär geworden, sagt Adelmann.
Auch das zieht Publikum an. Wer die exklusiven Serien guckt, ist selbst exklusiv, ist Connaisseur. "Das sind übrigens gerne diejenigen, die früher das klassische Fernsehen 'bäh' fanden und gar keinen Fernseher hatten", sagt Adelmann.
Ende des Fernsehens? "Nicht allzu bald"
Könnte das klassische Fernsehen also verschwinden? "Klar könnte es", sagt Adelmann. "Es hat sich historisch so entwickelt, dass es ein Programm hat und es kann sich künftig auch vom Programm weg entwickeln." Er glaube aber, dass es noch eine ganze Weile in der aktuellen Form bestehen wird.
Auch in 50 Jahren könne es also weiterhin klassisches Fernsehen geben. "Es wurde schon oft totgesagt und es ist immer noch hier", sagt Adelmann. Ob es dann auch immer noch die meisten Zuschauer habe, sei eine andere Frage.