40 Kilogramm auf 1,83 Meter: Minden-Lübbecker litt lange an Essstörung - nun will er leben

Hille. In der schlimmsten Zeit seines Lebens läuft Arne Bredemeyer, und läuft, und läuft - bis zu 150.000 Schritte am Tag. Auch ein Ermüdungsbruch im rechten Fuß hält ihn nicht davon ab - der innere Zwang ist zu groß. Dabei kann er sich kaum auf den Beinen halten, denn zu essen erlaubt er sich nur Obst, Salat, Hühnchen. &bdquo;Möglichst kalorienarm halt“, sagt der heute 24-Jährige. Es ist der Tiefpunkt seiner Mager- und Sportsucht, Bredemeyer wiegt damals bei einer Körpergröße von 1,83 Meter noch knapp 40 Kilogramm. &bdquo;Ich sah aus wie ein KZ-Häftling“, sagt er beim Anblick der Fotos von damals: Seine Wangen sind eingefallen, die Knochen treten scharf hervor. Hätte er noch zwei Tage länger so weitergemacht, wäre er gestorben, habe ein Arzt damals zu ihm gesagt. Da beschließt der gebürtige Südhemmeraner: Er will nicht sterben, er will leben. Von Anorexie, der sogenannten Magersucht, sind Jungen in der Regel seltener betroffen als Mädchen. Das Geschlechterverhältnis liegt bei 1 zu 10, weiß Prof. Dr. Thomas Huber, Chefarzt der Klinik am Korso in Bad Oeynhausen, in der Menschen mit Essstörungen behandelt werden. Das kann auch daran liegen, dass Magersucht zum einen als typische Frauenerkrankung gilt, daher ist sie bei Männern noch immer tabuisiert, zum anderen gingen diese auch generell seltener mit Problemen zum Arzt. Häufiger tritt bei ihnen die Form auf, an der auch Arne Bredemeyer erkrankte: die Anorexia Athletica. &bdquo;Dabei geht es nicht primär um Nahrungsreduzierung und Dünnsein, sondern um Muskelaufbau“, erklärt der Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Ernährungsmedizin. Selbst nachts Workouts Auch Arne Bredemeyer sagt, es sei ihm nie ums Abnehmen gegangen, sondern um Selbstdisziplin. Heute kann er offen über seine Mager- und Sportsucht sprechen, den fiesen &bdquo;Kobold“, wie er die Krankheit nennt. Freundlich und offen wirkt er in dem Gespräch, immer noch sehr schlank, aber jetzt sitzt er mit 66 Kilogramm Körpergewicht vor einem. Es war ein langer Weg dorthin. Essstörungen beginnen laut Thomas Huber in der Regel im Teenageralter, bei Jungen etwas später als bei Mädchen. Es gebe allerdings eine Tendenz, dass sie mittlerweile immer früher einsetzen. Arne Bredemeyer beginnt mit etwa elf Jahren, sich intensiv mit seiner Ernährung zu beschäftigen. Was der Auslöser oder Grund war, weiß er nicht mehr. Gehungert habe er nie, sondern nur Ungesundes vom Speiseplan gestrichen, erklärt er. Schließlich schlägt der Kinderarzt Alarm, mit zwölf Jahren kommt Bredemeyer für fast drei Monate in die Kinderklinik. Danach habe er eine ambulante Therapie begonnen, berichtet er. Es folgen stabile Jahre. Er hat Freunde, spielt Handball bei LiT Nordhemmern. Mit etwa 16 Jahren driftet er wieder in die Essstörung ab. Online findet der Jugendliche Tipps zu gesunder Ernährung, verzichtet auf Fett und Kalorien, treibt dazu jede Menge Sport. Dafür schwänzt er die Schule, nachts macht er Workouts. Innerlich habe er einen gewaltigen Druck gespürt - von der Schule, den Eltern, die wenig Zeit gehabt hätten. &bdquo;Ich wollte nie jemanden enttäuschen“, sagt er heute. Dabei seien ihm gegenüber eigentlich nie Forderungen ausgesprochen worden. Den Druck macht er sich selber. Zurückziehen ist typisch für die Krankheit Seine Mutter und sein Vater hätten bemerkt, dass etwas nicht stimmt. &bdquo;Meine Eltern haben sich relativ schnell und viel mit dem Thema auseinandergesetzt, viel Zeit investiert“, sagt er rückblickend. Zuhause gibt es viel Streit. &bdquo;Sie wollten eigentlich, dass es mir gut geht“, weiß er. Der Kontakt zu den Freunden nimmt ab. &bdquo;Ich dachte, sie mögen mich nicht mehr.“ Dass Betroffene sich zurückziehen, ist typisch für die Krankheit, weiß Facharzt Thomas Huber. &bdquo;Sie sind zwar mit dem Freund verabredet, aber die Essstörung befiehlt ihnen, vorher noch zehn Kilometer zu laufen“, nennt er ein Beispiel für Gedankengänge. Die Vernachlässigung von Dingen, die früher wichtig waren, die auffällig intensive Beschäftigung mit Essen und Sport, ein unglücklicher Eindruck - all das sind Krankheitsanzeichen. Natürlich müssen Eltern reagieren, wenn es dem Kind immer schlechter geht. Aber: &bdquo;Die Betroffenen wollen die Essstörung nicht loswerden. Sie zur Einsicht überreden zu wollen, birgt viele Konflikte.“ Man dürfe diese nicht persönlich nehmen. Was Angehörige tun könnten: Zeigen, dass sie da sind, wenn das Gegenüber sie braucht. Er empfiehlt ihnen, Rat zum Beispiel beim &bdquo;Netzwerk Essstörungen im Kreis Minden-Lübbecke“ zu suchen. Wegen des Nährstoffmangels hat er Osteoporose 2018 kommt Bredemeyer abgemagert erst ins Krankenhaus, anschließend folgen bis 2020 diverse Aufenthalte in Fachkliniken für Essstörungen in Süddeutschland. Bewegungsverbote umgeht er, in dem er heimlich aus dem Fenster steigt und Spaziergänge unternimmt - zum Joggen hat er keine Kraft mehr. Vorm Wiegen trinkt er Wasser, damit das Ergebnis besser ausfällt. Er wird zwar immer mit mehr Gewicht entlassen, aber &bdquo;ich bin krank im Kopf nach Hause gekommen. Ich habe denen und mir etwas vorgespielt“. Daheim verfällt er in alte Muster. &bdquo;Meine Krankheit hat alle in Anspruch genommen“, sagt Arne Bredemeyer. Weil die Familie denkt, Distanz täte ihm gut, aber auch aus Eigenschutz, zieht er zu Hause aus. Er wohnt zwischendurch bei den Großeltern oder in einer Ferienwohnung, macht ambulante Therapien. Aber die Essstörung hat ihn weiter im Griff. Er habe sein Äußeres durchaus wahrgenommen: &bdquo;Aber mein Inneres war zerrissen. Meine Krankheit war ein Kobold. Der hat gelebt, Arne aber nicht mehr.“ Nach einem Klinikaufenthalt beginnt er im Sommer 2020 in Timmendorf eine Ausbildung zum Hotelfachmann - um es anderen Recht zu machen. &bdquo;Ich habe gewusst, dass das nicht gut geht.“ Er beschreibt das Ganze als Kombination aus unfassbarer Essstörung, Schichtdienst und anstrengender Arbeit in der Gastronomie. Nach drei Wochen lässt er sich krankschreiben. Für Arne Bredemeyer beginnt die schlimmste Zeit seines Lebens: Nun kann die Krankheit seinen ganzen Tag bestimmen. &bdquo;Ich bin morgens aufgestanden und erstmal anderthalb Stunden Rad gefahren.“ Erst dann erlaubt er sich, etwas zu essen. &bdquo;Danach war ich den ganzen Tag spazieren.“ Bis zu 150.000 Schritte am Tag sei er gelaufen, auch mit einem Bruch im rechten Fuß - Bredemeyer hat wegen des Nährstoffmangels Osteoporose. Dieses Mal will er es schaffen Nach ein paar Wochen beschließt sein Vater, dass er heimkommen soll. &bdquo;Hätte Papa nicht diese Entscheidung getroffen, wäre ich jetzt tot“, ist Bredemeyer heute überzeugt. Am 20. September 2020 holt ihn ein Freund des Vaters ab. Einen Tag nach seiner Ankunft habe er sich im Zentrum für Seelische Gesundheit in Lübbecke aufnehmen lassen, mit knapp 40 Kilogramm Körpergewicht. Arne Bredemeyer weiß nun, dass er so nicht weiterleben möchte. Dieses Mal will er es schaffen. Nach acht Wochen sei er mit 51 Kilogramm entlassen worden. Als er im Januar 2021 merkt, dass er psychisch nicht stabil ist, sucht er von sich aus eine Klinik auf, dort wird er auf Antidepressiva eingestellt. &bdquo;Das hatte ich vorher immer abgelehnt.“ Bredemeyer zieht zunächst auf eigenen Wunsch in eine Wohngruppe für Essgestörte in Bielefeld, macht ein Freiwilliges Soziales Jahr, anschließend eine einjährige Ausbildung zum Pflegefachassistenten. Er wohnt währenddessen in einer eigenen Wohnung und macht eine ambulante Therapie. &bdquo;Ich war das erste Mal selbstständig.“ Aber eigentlich möchte er gerne nach Hause. &bdquo;2024 ist bisher das schönste Jahr meines Lebens“ Schließlich kehrt er zurück nach Südhemmern, holt dort nach, was er lange vermisste. &bdquo;Ich habe endlich ein intaktes, harmonisches Familienleben“, sagt er. Auch die Freunde nehmen ihn wieder auf. Er esse kontrolliert, aber ausreichend. Ab und zu gönnt er sich mal Pizza oder Döner. Sport mache er aus Freude, aber alleine - um keinen Leistungsdruck zu haben. Seit Anfang des Jahres hat er eine Beziehung, er reist. Geholfen habe ihm auch ein Coaching zur Persönlichkeitsentwicklung. Er weiß nun besser, was er will. Mittlerweile arbeitet er sogar in dem Unternehmen. &bdquo;2024 ist bisher das schönste Jahr meines Lebens“, sagt Bredemeyer und lächelt. Die Gedanken, die ihn jahrelang begleitet hätten, seien nicht weg. Aber er wisse heute: &bdquo;Gedanken und Gefühle können sich irren. Sie haben mich jahrelang ausgetrickst.“ Der Kobold werde nie ganz verschwinden. &bdquo;Aber ich habe ihn in eine Schublade gesperrt.“

Meistgelesen