
Detmold. „Wir sind es den Opfern schuldig, die Verbrechen auch heute noch zu verfolgen," sagte Oberstaatsanwalt Andreas Brendel am 15. Prozesstag in seinem Plädoyer, in dem er eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren für den ehemaligen SS-Wachmann Reinhold Hanning aus Lage gefordert hatte.
Der 94-Jährige muss sich vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Detmold wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 170.000 Menschen im Konzentrationslager Auschwitz verantworten. Im Plädoyer hatte Brendel den ehemaligen SS-Unterscharführer die Beihilfe am Tod von mindestens 100.000 Menschen zur Last gelegt. Den Ausführungen hörte der Angeklagte im Rollstuhl zwischen seinen Anwälten Johannes Salmen und Andreas R. Scharmer mit versteinerter Miene zu, ohne den nach unten geneigten Kopf anzuheben und in den Gerichtssaal zu blicken.
Laut Staatsanwaltschaft ist der Angeklagte überführt. Reinhold Hanning seien die „Vorkommnisse im Konzentrationslager Auschwitz nicht verborgen geblieben und er sei von der Richtigkeit seiner Tätigkeit überzeugt gewesen."
Befangenheitsantrag abgewiesen
- Den in der vergangenen Woche gestellten Befangenheitsantrag von Rechtsanwalt Christoph Rückel gegen die drei Berufsrichterinnen Anke Grudda, Sylvia Suermann und Sabine Tegethoff-Drabe hat die Kammer zu Verhandlungsbeginn als unbegründet zurückgewiesen.
- Die Kammer es abgelehnt, den aus den USA angereisten Lager-Überlebenden Joshua Kaufmann, der nicht vom Gericht als Zeuge geladen war, anzuhören.
- Anke Grudda begründete dies damit, dass es keiner weiteren Beweise für die großen Qualen bedürfe, die die Opfer in den Gaskammern von Auschwitz erlitten hätten.
„Der Angeklagte hat am Vernichtungszweck des Lagers mitgewirkt", sagte Brendel. Der Anklagevertreter betonte, es habe zur Aufgabe der Wachleute gehört, dass Häftlinge nicht lebend das Lager verließen. In Auschwitz habe es Massenerschießungen, Hungertod und die massenhafte Vergasung von Häftlingen gegeben. Insgesamt waren im Vernichtungslager der Nationalsozialisten 1,1 Millionen Menschen umgebracht worden, vor allem Juden. Brendel stellte zu Beginn seines Plädoyers dar, dass „die NS-Gräueltaten historisch und juristisch aufgearbeitet werden müssen, solange noch ein Täter unter uns ist."
Er betonte aber auch, dass diese Prozesse eigentlich fünfzig Jahre zu spät kommen. Die Einlassungen des ehemaligen SS-Unterscharführers seien kritisch zu betrachten, erklärte Brendel: „Der Angeklagte versucht abzumildern." Für die Staatsanwaltschaft sei es klar, dass der ehemalige SS-Soldat durch seinen Wachdienst in Auschwitz zu einem Teil der grausamen Mordmaschinerie der Nazis geworden sei.
Durch das Ableisten seines Dienstes habe der ehemalige SS-Mann sich mit den Zielen seiner Auftraggeber solidarisiert, führte die Staatsanwaltschaft aus. Auch hätte der Angeklagte die Möglichkeit der gehabt, um eine Versetzung zu bitten, ohne um sein Leben fürchten müssen.
Rechtsanwalt Ernst von Münchhausen hatte beantragt, die Enkeltochter von Reinhold Hanning als Zeugin zu vernehmen.
Münchhausen sah ein geschichtliches Interesse bei der Enkelin und hatte sich Aussagen von ihr zum Verhalten des Großvaters in Auschwitz erhofft. Die Enkelin ihrerseits signalisierte dem Gericht, dass sie auf jeden Fall von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen werde. Also lehnte Richterin Anke Grudda diesen Antrag ab. Hannings Verteidiger Johannes Salmen hatte Münchhausens Antrag zuvor schon als unzulässig bezeichnet.
Der Prozess wird am kommenden Freitag fortgesetzt. Dann sollen am 16. Verhandlungstag die Nebenkläger ihre Plädoyers halten. Danach plädiert die Verteidigung. Das Detmolder Landgericht wird noch weitere Verhandlungstage bis zur Urteilsverkündung anberaumen müssen. Das Gericht wird über die Termine in der nächsten Woche entscheiden.