Berlin

Sanierungsfall SPD: Was im Wahlkampf alles falsch lief

Die Partei will aus dem Debakel bei der Bundestagswahl lernen. Eine Expertenanalyse bescheinigt ihr nun: Sie hat so ziemlich alles falsch gemacht

Verspricht Erneuerung: Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles will den Kanzlerkandidaten der SPD künftig früher benennen. | © picture alliance / SvenSimon

Andreas Niesmann
12.06.2018 | 12.06.2018, 11:38

Berlin. Eines kann man den Sozialdemokraten nicht vorwerfen: Dass sie sich schonen würden. Darin unterscheidet sich die SPD vom Gros ihrer Mitbewerber. Der Satz Angela Merkels vom Nachwahltag ist ja nicht vergessen: "Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten". Die SPD kann das offenbar. Sie hat einen Bericht vorgelegt: "Aus Fehlern lernen - Analyse der Bundestagswahl 2017".

Die 108 Seiten, die eine fünfköpfige Expertenkommission erstellt hat, haben es in sich. Von der "womöglich tiefsten Krise seit 1949" ist die Rede, von einer "tiefen Entfremdung" zwischen Basis und Führung, von einem "Sanierungsfall", zu dem die SPD in der öffentlichen Wahrnehmung geworden sei. Auch über die Kampagne 2017 verlieren die Autoren kaum ein gutes Wort. Von einem "Schiffbruch mit Ansage" ist zu lesen. Es habe keine strategische Grundlage gegeben, keine klaren Verantwortlichkeiten, kein eingespieltes Team.

Hart ins Gericht gehen die Autoren mit dem früheren Parteichef Sigmar Gabriel. Der habe kein Vertrauensverhältnis zu seinen jeweiligen Generalsekretärinnen gepflegt, immer neue Berater ins Willy-Brandt-Haus geholt, ständig wechselnde Kampagnen begonnen und wieder eingestampft. Das alles habe viel Zeit, Geld und Nerven gekostet. "Die Kampagnenfähigkeit der SPD nahm so in den vergangenen acht Jahren nachhaltig Schaden", stellt der Bericht fest.

"Selbstzweifel und taktische Manöver"

Der "Kardinalfehler" aber sei die zu späte Kür der Kanzlerkandidaten gewesen, und diesen Fehler habe der damalige Parteichef Gabriel, der ein ungeschriebenes "Erstzugriffsrecht" auf den Posten hatte, gleich zwei Mal gemacht: Bei Frank-Walter Steinmeier und Martin Schulz. "Dieses Erstzugriffsrecht wurde von Sigmar Gabriel zwei Mal missbraucht und damit die gesamte Partei Geisel seiner Launen, Selbstzweifel und taktischen Manöver", heißt es wörtlich. Schulz gab die Analyse nach der Wahl in Auftrag, frühere Pleiten sind dagegen nie systematisch aufgearbeitet worden.

Aber die Autoren geben nicht allein Gabriel die Schuld. "Zur Wahrheit gehört auch, dass die gesamte Parteiführung nicht den Mut hatte, dem Parteivorsitzenden Einhalt zu gebieten", heißt es. "Es hätte nach dem verunglückten Start 2012 dringend eines Ultimatums bedurft, das eine Entscheidung des Parteivorsitzenden bis spätestens Frühjahr 2016 eingefordert hätte."

Als Konsequenz fordern die Autoren ein Ende der "kollektiven Verantwortungslosigkeit" in der SPD, schlankere Strukturen in Parteivorstand und Präsidium, eine komplette Reorganisation des Willy-Brandt-Hauses, klarere Sprache, einen stärkeren Fokus auf digitale Kommunikation, die frühzeitige Nominierung des Kanzlerkandidaten sowie mehr Haltung und weniger Taktik.

Parteichefin Andrea Nahles kündigte an, sich den Bericht zu Herzen nehmen zu wollen. Das Problem der Kandidatenkür will sie angehen: "Wir wollen die Spitzenkandidatur früher und geordneter klären." Sturzgeburten werde es nicht mehr geben.

Das sagen SPD-Bundestagsabgeordnete aus OWL

Wiebke Esdar - © Frederick Cordes
Wiebke Esdar | © Frederick Cordes

Wiebke Esdar, Abgeordnete aus Bielefeld, ist froh, dass sich die Partei einer externen und schonungslosen Analyse gestellt hat. "Jetzt ist es Zeit für Inhalte, damit wir den Wählern zeigen können, wofür die SPD steht und wie wir Probleme lösen", sagt Esdar. "Mir ist wichtig, dass der Erneuerungsprozess der Partei weiter geführt wird und wir uns und den Wählern unsere Haltung klarmachen."

Stefan Schwartze - © Frank-Michael Kiel-Steinkamp
Stefan Schwartze | © Frank-Michael Kiel-Steinkamp

Achim Post, Abgeordneter aus Minden-Lübbecke I, will die Analyse nutzen, um Probleme nachhaltig zu verbessern. "Ich finde es richtig, dass die SPD eine externe und unabhängige Kommission um eine Analyse gebeten hat. Eine selbstkritische Auswertung halte ich für dringend geboten. Nur dann kann man richtige Lehren aus dem schlechten Wahlergebnis im Bund ziehen."

Stefan Schwartze, Abgeordneter aus Herford - Minden-Lübbecke II, lobt den offenen Umgang mit Fehlern. "Auf dieser Basis können wir jetzt gemeinsam aufbauen und die entsprechenden Lehren aus der letzten Bundestagswahl ziehen", sagt Schwartze. "Wir müssen und werden anpacken, nach vorne schauen und uns die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger wieder verdienen."

KOMMENTAR DER REDAKTION


Partei im Krieg mit sich selbst

Von Dieter Wonka (Berlin)

Ein Gespenst geht um in der SPD: Sie wird geschüttelt von Existenzangst. Die AfD ist fast so stark wie die älteste, stolzeste und demokratischste Partei in Deutschland. Bisher hieß es fast immer nur, Schuld seien andere. Immerhin hat sich die neue Parteiführung nun von Experten attestieren lassen: Das Desaster ist hausgemacht. Die Ratschläge beheben aber nicht das Dilemma einer Partei, die sich seit Jahren im Kriegszustand mit sich selbst befindet.

Beinah einem Witz kommt der Vorschlag gleich, den Kanzlerkandidaten beim nächsten Mal sehr viel früher und erfolgsorientierter zu küren. Stattdessen sollte sich die SPD fragen, ob es zeitweilig nicht ehrlicher wäre, die Stelle des Kandidaten vakant zu lassen, bis man wieder das Teamspiel gelernt hat.

Auch an anderer Stelle erweist sich der Expertenrat als kurzsichtig. Niemand konnte wissen, dass Martin Schulz keinen Wahlkampf kann. Und jetzt soll der Hauptschuldige Sigmar Gabriel sein? Da sollte man doch eher die Frage stellen, was es bringt, immer nur an Merkels Regierungs-Rockschoß zu hängen. Immerhin hat der Ego-Berserker Gabriel früher und radikaler als andere erkannt, dass der SPD das wachsende und tief sitzende Misstrauen vieler Bürger gegen den Politikbetrieb nicht gleichgültig sein darf.

Nicht die Rechten, nicht das Kapital oder die Ideen von Karl Marx könnten das Schicksal der deutschen Sozialdemokraten besiegeln, sondern die Lust der Genossen, der eigenen Politik, der eigenen Führung, den eigenen Erfolgen mit dem denkbar größten Misstrauen zu begegnen.

Andrea Nahles ist und bleibt auch ohne Erneuerungspapier der letzte Trumpf der SPD. Sie hat so viel Macht und Kraft wie schon lange niemand mehr in der Partei. Sie wird vielleicht eines Tages einer oder einem helfen können, das Kanzleramt zu erreichen. Sie selbst sollte sich bei diesem Punkt nicht überheben. Denn wer ganz groß siegen will, der muss auch sympathisch wirken. Also kommen Scholz oder Nahles kaum in Frage.

Lässt sich die Abwärtsspirale für die einst große und schon sehr alte SPD noch stoppen, oder heißt die Rettung am Ende „En Marche" wie in Frankreich? Entscheidend wird in Zukunft nicht sein, ob Kampagnen innerhalb oder außerhalb des Willy-Brandt-Hauses konzipiert werden. Ausschlaggebend wird sein, wem es gelingt, teils ziellos vagabundierende politische Kräfte zu bündeln, die aus Frust, Ratlosigkeit oder Wut mal der FDP, mal den Grünen, mal der Linken oder auch mal der AfD folgen. Anders als die CDU, deren Vorsitzende gelernt hat, die politischen Kräfte der Konkurrenz zu lähmen, sollte die SPD nun endlich mal den Versuch unternehmen, Kräfte zu bündeln.
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