
Köln. Auch im Schlussspurt vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl bleibt die Schulpolitik eines der am heißesten umkämpften Themen. Eineinhalb Wochen vor der Wahl empfahlen sich die Spitzenkandidaten von sieben Parteien am Donnerstagabend in der TV-„Wahlarena" des WDR mit unterschiedlichen Modellen für Entlastungen vom „Turbo-Abitur".
SPD, CDU, Grüne und FDP wollen den Gymnasien Wahlfreiheit für das Abitur nach acht oder neun Jahren (G8/G9) geben - allerdings mit verschiedenen Modellen. Piraten, Linke und AfD sind für die Rückkehr zu G9. Der Spitzenkandidat der Piraten, Michele Marsching kritisierte, Kardinalfehler sei gewesen, die Schüler nicht zu fragen.
Die grüne Schulministerin und Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann steht wegen des unbeliebten „Turbo-Abis" seit Jahren unter Druck. Die Umfragewerte der Grünen sind seit der Landtagswahl 2012 von damals 11,3 auf zuletzt 6 bis 7 Prozent stark gesunken.
Munteres Durcheinander
Sieben Kandidaten in einer einzigen Diskussionsrunde – das gab es noch nie bei einer Fernsehdebatte wenige Tage vor einer wichtigen Landtagswahl. Es war die Aufgabe der Moderatoren Ellen Ehni und Sabine Scholt, Ordnung in die große Anzahl der Kandidaten zu bringen.
Um es vorweg zu nehmen – es gelang nicht immer. Schon beim ersten Thema, Verkehr und Infrastruktur, ging es munter durcheinander. Wenigstens ansatzweise ging es um den Umbau des Autoverkehrs auf Elektroantrieb. Doch kaum hatte jeder der sieben Kandidaten ein Statement abgegeben, war es auch schon wieder vorbei. „Wie, wars das schon mit dem Thema verkehr", fragte FDP-Spitzenmann Christian Lindner. Mindestens er hätte gerne noch etwas zum Thema Stau auf nordrhein-westfälischen Autobahnen gesagt. Schade, denn es ist ein Thema, das besonders viele Menschen interessiert.
Doch es war das Grundproblem des Sendeformats. Es ging zu sehr um die Einhaltung von Redezeiten und um das Durchpeitschen der Themenkomplexe, die vorher unter Beteiligung von Zuschauern bestimmt worden waren. Immer wieder mussten die Moderatorinnen auf das Gaspedal drücken, es tat dem inhaltlichen Niveau der Sendung nicht gut.
Immerhin: Deutlich mehr Zeit als für den Verkehr stand für das Thema Bildung zur Verfügung. Doch dafür sorgten die Politiker selbst. Als die Moderatoren schon zum nächsten Thema, den Kindertagesstätten, übergehen wollten, setzte CDU-Mann Laschet mit seiner Intervention durch, dass erst noch über das Thema Inklusion an den Schulen gesprochen werden müsse, „ein Thema, das vielen Menschen unter den Nägeln brennt".
Heftiger Streit über Inklusion
„Schulpolitik ist immer ein Aufregerthema bei allen Landtagswahlen", sagte Löhrmann. „Wir haben das Turbo-Abitur geerbt." Eingeführt worden sei es von der schwarz-gelben Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU). Eine kurzfristige Kehrtwende nach dem Machtwechsel 2010 hätten die meisten Gymnasien abgelehnt.
Heftig gestritten wurde in dem 105 Minuten langen Schlagabtausch auch über den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung. Alle Partei-Spitzen außer Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Löhrmann betonten, die Regelschulen seien mit dem Rechtsanspruch der behinderten Kinder auf die so genannte Inklusion überfordert. Weder die personellen noch die baulichen Voraussetzungen seien gegeben.
Laschet sagte, er wolle in der ersten Kabinettssitzung als Ministerpräsident ein Moratorium gegen die Schließung von Förderschulen beschließen. AfD-Spitzenkandidat Marcus Pretzell hielt Rot-Grün vor, die Regierung sei entweder 15 Jahre mit der Ausbildung der Lehrer zu spät oder 15 Jahre mit der Inklusion zu früh.
Ministerpräsidentin Kraft hielt dagegen, Förderschulen, die nur noch zwei Schüler hätten, seien nicht zu halten. FDP-Chef Christian Lindner kritisierte, aus der guten Idee der Inklusion sei eine Ideologie gemacht worden, die zulasten der Schwächsten gehe, der Behinderten. Die Spitzenkandidatin der Linken, Özlem Demirel, sprach von „Inklusion auf Sparflamme".
Gegen Diesel-Fahrverbote
Alle Politiker äußerten sich gegen ein Diesel-Fahrverbot zur Luftreinhaltung. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sagte, die Halter dürften nicht bestraft werden für Versprechen, die die Autoindustrie nicht eingehalten hätten. Ähnlich äußerten sich in der Live-Sendung die Spitzenkandidaten von CDU, Grünen, FDP und AfD.
Grüne, Piraten und Linke forderten einen fahrscheinfreien oder stark verbilligten Zugang zu Bussen und Bahnen in den Kommunen. Kraft hielt dagegen, die Schuldenbremse und die Haushaltsgrenzen müssten im Blick behalten werden.
Hannelore Kraft vermied laute Töne
Am Ende standen Zuschauer, die sich von der insgesamt 115 Minuten langen Sendung eine Entscheidungshilfe für die Wahl am 14. Mai versprochen hatten, ziemlich ratlos da. Zu wenig Tiefe hatten die Diskussionen, zu häufig wurden nur bereits bekannte Wahlkampf-Parolen ausgetauscht.
Immerhin erlebten sie eine Ministerpräsidentin, die – diesmal auch äußerlich zurückhaltender im blauen statt im roten Blazer – deutlich souveräner und klarer auftrat als beim Duell mit CDU-Mann Laschet zwei Tage zuvor. Auch die lauten Töne vermied sie diesmal. Sogar beim Thema innere Sicherheit blieb sie staatstragend.
Immerhin gab es hier wieder die größten Unterschiede zwischen den beiden Regierungsparteien und den Oppositionsvertretern von CDU und FDP. Anders als noch am Dienstag allerdings konnte Laschet in diesem Themenbereich nicht so deutlich punkten. Krafts Hinweis, dass die jetzige Landesregierung Polizeistellen wieder aufbauen müsse, die die schwarzgelbe Landesregierung unter CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers abgebaut hatte, saß.
Lindner sehr präsent, Pretzell argumentativ schwach
Auffallend war auch, dass FDP-Chef Lindner mit seiner Präsenz (er eroberte sich dabei allerdings auch die längste Redezeit aller Kandidaten) und seinen klaren Aussagen den Vertretern der beiden großen Parteien durchaus Paroli bieten konnte. dagegen hatte selbst die grüne Löhrmann Schwierigkeiten, zur Geltung zu kommen.
Auffallend auch, dass Özlem Alev Demirel von den Linken und Michele Marsching von den Piraten nur eine Nebenrolle spielten.
Auffallend schließlich die argumentative Schwäche des häufig nur herumstotternden AfD-Vertreters Marcus Pretzell, der zu manchen Themen – zum Beispiel, als es um Kindertagesstätten ging – das Gegenteil von dem sagte, was im Parteiprogramm der Rechtspopulisten steht.
Lautstark ausgebuht wurde der AfD-Landeschef von den 150 Zuschauern im WDR-Studio in Köln-Bocklemünd, als er sich wünschte, dass die rechtsextreme Marine Le Pen am Sonntag zur neuen französischen Präsidentin gewählt werde.
Umfrage zur NRW-Wahl
Einer Umfrage zufolge liegen SPD und CDU derzeit fast gleichauf, die FDP springt auf einen Rekordwert. Die SPD kommt nach der repräsentativen Befragung von infratest dimap im ARD-Auftrag aktuell auf 32 Prozent und verliert damit 2 Punkte im Vergleich zum letzten „NRW-Trend" vom 23. April. Die CDU verbucht ein Minus von 3 Punkten und landet bei 31 Prozent. Die FDP legt deutlich um 3 Punkte zu und erreicht mit nun 13 Prozent ihren bisherigen Spitzenwert. Die Grünen verbessern sich leicht um einen Punkt auf jetzt 7 Prozent.
Nach den am Donnerstag veröffentlichten Ergebnissen wäre erstmals die AfD mit - unverändert - 8 Prozent vertreten. Die Linke müsste mit einem ebenfalls unveränderten Wert von 5 Prozent um den Einzug in den Düsseldorfer Landtag zittern. Die Piraten wären raus - sie tauchen in der Umfrage nur noch unter „Sonstige" auf. Das einzige derzeit realistische Bündnis wäre damit eine große Koalition aus CDU und SPD im bevölkerungsreichsten Bundesland. Die aktuelle rot-grüne Regierung hätte auch weiterhin deutlich keine Mehrheit mehr.
Für die Erhebung waren 1.000 Wahlberechtigte in NRW telefonisch befragt worden - am 2. und 3. Mai, also am Tag und Folgetag des TV-Duells von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und ihrem Herausforderer Armin Laschet. Wenn der Ministerpräsident direkt gewählt werden könnte, käme Kraft mit einem Minus von 4 Punkten auf derzeit 49 Prozent - ihr schlechtester Wert laut infratest dimap in dieser Legislaturperiode. Laschet könnte mit 28 Prozent (-3) rechnen.
Mit der Arbeit der rot-grünen Regierung sind der Umfrage zufolge derzeit 47 Prozent zufrieden, 35 Prozent sind weniger zufrieden und 13 Prozent sind gar nicht zufrieden. Bei der Frage, welche Partei die künftige Landesregierung führen solle, sprachen sich 43 Prozent für die SPD aus und 37 Prozent für die CDU.
Mit Material der dpa