Bielefeld. Plötzlich steht sie da auf der Bühne des kleinen TAM drei in Bielefeld – Rosel. Pelzmantel, schickes Halstuch, schwarzer Hosenanzug. Eine durchaus noch elegante Frau – auch wenn die Lebensjahre nicht spurlos an ihr vorübergegangen sind. "Ich bin’s, Rosel", sagt sie mit Nachdruck zur Begrüßung und wird von nun an nicht mehr aufhören zu reden – über sich, ihre Suche nach Liebe, ihre Lust, ihre ewigen Abstürze, die Männer und den Suff.
Harald Mueller hat "Rosel" verfasst. Und es ist, als hätte der Dramatiker Therese Berger seinen Text auf den Leib geschrieben. Die Berger gibt nicht die Rosel – sie ist sie. Und der Zuschauer wird atemlos lauschender Zeuge, ist statt einer imaginären Freundin der Adressat dieses großen Monologs, den Regisseur Christian Schlüter mit Therese Berger erarbeitet hat.
Rosel setzt sich. Noch scheint ihre Welt intakt. Das angedeutete Café ist eines der besseren. Rotwein steht parat. Schnell wird klar, ohne Alkohol geht bei Rosel wenig. Die Erinnerungsreise auf der kleinen Drehbühne – Jürgen Höth hat dieses Sinnbild ihres Lebenskarussells geschaffen – beginnt.
Rosel, behütete Arzttochter, stand einst ein gutes Leben bevor. Geigerin wollte die schöne Rosel werden, eine eigene Karriere, davon träumte sie. Doch studieren durfte nicht sie, sondern ihr Bruder Konrad. Früh musste sie erkennen: Den Männern gehört die Welt. "Ich wurde abgerichtet. Mann, Kinder, eigenes Heim." Ihr Vater schickt sie zur Vorbereitung auf dieses Leben auf die Hotelfachschule. Dort lässt sie sich mit einem Gast ein und wird entlassen. Ihr Vater wendet sich ab von ihr, ihre Mutter frisst Tabletten.
Die Talfahrt beginnt, die Bühne dreht sich. Rosel wechselt das Etablissement. Sie braucht jetzt Härteres, sie braucht Whisky – und den gibt es in der schäbigeren Bahnhofskneipe gleich nebenan.
Mit dem Ortswechsel bröckeln auch die Reste der bürgerlichen Fassade. Ihr Hab und Gut passt in ein Schließfach. Auch ihren Pelzmantel streift sie ab. Ein gelbes Shirt trägt sie nun. "Lost" (Verloren) steht vorne und "Found?" (Gefunden?) auf dessen Rückseite. Hätte es gar nicht gebraucht, um zu merken, dass diese Frau längst nicht mehr weiß, wohin sie gehört.
Nun beginnt das große Spiel der Therese Berger. Sie spielt eine Rosel, die wiederum den Zuschauern vorspielt, wie sie von Mann zu Mann eilt, auf der Suche nach Liebe, Freundschaft, Zärtlichkeit, Leben. Die gleichzeitig die Jobs, die immer mieser werden wie die Kerle auch, wechseln muss, weil sie unbequem ist, sich für so etwas Abwegiges wie gleichen Lohn für Frauen einsetzt. Doch statt Liebe, Freundschaft, Zärtlichkeit und Wohlleben gibt’s Suff, Missbrauch, Gewalt, Vergewaltigung. "Weißt du, man wird als Vollweib geboren, und dann merkt man, es nimmt immer mehr ab.
Und eines schönen Tages kommt man dahinter, man hat die volle Zeit gar nicht ausgenutzt", ruft sie aus. Umherlaufend, saufend, nur noch einen Schuh tragend, rauchend, schreiend, wie irr redend, dann wieder mit einem Mikrofonständer flirtend wie eine junge verführerische Frau, gurrend, säuselnd, ätzend, sich die Haare raufend, zunehmend entgleitend, fächert die Berger diesen Lebensabsturz mit ihrem intensiven Spiel auf.
Von der Bahnhofskneipe geht’s an den Bahnhofskiosk. Auf den Whisky folgt der Doppelkorn – in rauen Mengen. Ganz unten ist sie jetzt. Und Werner wird der schlimmste Typ in ihrem Leben. Er schickt sie auf den Strich, schlägt sie, lässt sie von einem Dutzend üblen Typen vergewaltigen, als sie nicht mehr kann, nicht mehr will, krank wird über den Irrsinn ihres Lebens. Ein erschütterndes Bild, gespielt von der am Boden kauernden Therese Berger. Dann packt Rosel ihre Sachen, tritt ab. Ihr Lebensmonolog ist beendet. Alle ihre Männer entern die Bühne. "Danke für den schönen Abend", ruft sie noch ins Publikum und geht, als wäre nichts gewesen.
Was für ein Leben! Was für eine Gier nach Leben! Was für ein großer Theaterabend auf kleiner Bühne. Was für eine schauspielerische Energieleistung. 90 Minuten Lebensirrsinn – grandios, facettenreich, packend auf die Bühne gebracht.
Die bisher beste Inszenierung dieser Theatersaison im Bielefelder Schauspiel.
- Harald Mueller, geboren 1934 in Memel/Ostpreußen, arbeitete als Bergmann, Hotelboy, Telefonist und Dolmetscher, bevor er 1955 seine Ausbildung zum Schauspieler begann und in München Literatur und Theaterwissenschaft studierte.
- 1968 debütierte er mit "Großer Wolf" als Dramatiker.
- 1985 wurde sein Stück "Totenfloß" auch international ein Erfolg und in zwölf Sprachen übersetzt.
- "Rosel" ist am 8., 9., 14., 15. sowie 18. November im Bielefelder TAMdrei zu sehen.
- Karten gibt’s unter Tel. 555-444. Infos: www.theater-bielefeld.de