Bad Lippspringe

Holocaust-Gedenken: Rotkreuz-Schwester im Stalag 326 erinnert sich

Margarete Botschen (94) aus Bad Lippspringe erinnert sich an die „unendlich traurigen Augen der Gefangenen“ im Wehrmachtslager in der Senne. Den Anblick kann sie bis heute nicht vergessen

Erinnert sich: Margret Botschen (94), die heute in Bad Lippspringe lebt, war oft im Kriegsgefangenenlager in der Senne. | © Oliver Krato

Lothar Schmalen
29.01.2018 | 29.01.2018, 13:37

Schloß Holte-Stukenbrock/Bad Lippspringe. Das kleine, leicht vergilbte Foto, das sie als Rotkreuz-Schwester am Krankenwagen zeigt, hält Margret Botschen in ihren Händen. Mit zitternder Stimme sagt die 94-jährige Dame: „Diese unendlich traurigen Augen der Gefangenen habe ich nie vergessen."

Vier Jahre lang, von 1940 bis 1944, war die Frau, die aus Schloß Neuhaus stammt und heute in Bad Lippspringe lebt, als Krankenwagenfahrerin beim Deutschen Roten Kreuz dienstverpflichtet. Und immer wieder ging es in das Stammlager (Stalag) 326 der Deutschen Wehrmacht, wo Tausende von sowjetischen Kriegsgefangenen unter fürchterlichen Bedingungen leben mussten.

Ihrem Schicksal überlassen

Doch Sanitäter und Krankenwagen kamen nicht, um sich um die hungernden, kranken und völlig geschwächten Gefangenen zu kümmern. Die wurden ihrem Schicksal überlassen. Medizinisch betreut wurden lediglich die Wachleute der Gefangenen. „Wir wurden immer dann zum Lager bestellt, wenn einer der Wachleute so schwer krank war, dass er ins Krankenhaus musste oder zum Arzt gefahren werden musste", berichtet Margret Botschen.

26.01.2018 Bad Lippspringe. Interview mit Margret Botschen-Thombansen (94 jahre alt) als Zeitzeugen für Straflager in xx.

Interview: Lothar Schmalen

Foto: Oliver Krato - © Oliver Krato
26.01.2018 Bad Lippspringe. Interview mit Margret Botschen-Thombansen (94 jahre alt) als Zeitzeugen für Straflager in xx.
Interview: Lothar Schmalen
Foto: Oliver Krato | © Oliver Krato

Die am 1. Dezember 1923 als Margarete Thombansen geborene Schloß Neuhäuserin hatte schon mit 16 Jahren ihren Führerschein machen dürfen. Sie hatte eine Ausnahmegenehmigung erhalten, weil der Fahrer ihres Vaters, der als Kaufmann viel unterwegs war, zu Beginn des Krieges als Soldat eingezogen wurde. So konnte sie nun ihren Vater fahren.

Und als sie 1940 bei ihrer Kriegsverpflichtung vor die Wahl gestellt wurde, nach Ostpreußen als Landwirtschaftshelferin, als Arbeiterin in einer Munitionsfabrik oder als DRK-Helferin zu arbeiten, entschied sie sich schnell für das Rote Kreuz und übernahm die Aufgabe, mit dem zum Krankenwagen umgebauten Opel Blitz der Paderborner DRK-Dienststelle Einsätze zu fahren. Im wöchentlichen Wechsel musste sie tagsüber oder die ganze Nacht über fahren.

Eingepfercht in Viehwaggons

Schon vorher hatte sie lange Kolonnen von Kriegsgefangenen, die meisten von ihnen sowjetische Soldaten, an ihrem Elternhaus direkt neben den Neuhäuser Schloss vorbeiziehen sehen. Eingepfercht in Viehwaggons wurden sie bis zum Bahnhof in Elsen transportiert, von da aus ging es zu Fuß weiter zu den Lagern in Staumühle und in Senne.

„Rechts und links wurden sie von berittenen Wehrmachtssoldaten begleitet, die sie immer wieder mit ihren Gewehrkolben schlugen und zur Eile antrieben", erinnert sich die 94-Jährige. „Die Männer hatten oft nur Lumpen um die Füße gewickelt oder ganz nackte Füße. Oft stolperten sie mehr, als dass sie gingen."

Als Krankenwagen-Fahrerin sei sie ungefähr alle zwei Wochen gemeinsam mit einem 70-jährigen Sanitäter ins Lager gefahren. Es sei weiträumig mit einem mindestens 2,5 Meter hohen Stacheldrahtzaun gesichert gewesen. Der Eingang sei streng bewacht worden.

Sprechen mit den Gefangenen strengstens verboten

Niemand habe das Gelände betreten dürfen. Und innerhalb des Lagers seien die Bereiche für die Gefangen noch einmal eingezäunt gewesen, erinnert sich Botschen. Einmal habe sie versucht, den Gefangenen Butterbrote und Rauchwaren zu reichen. „Doch da bin ich sofort von den Wachleuten gewarnt worden. Das könne als Verbrüderung mit dem Feind schwer bestraft werden." Auch das Sprechen mit den Gefangenen sei strengstens verboten gewesen.

Die Gefangenen hätten im Sommer wie im Winter unter freiem Himmel leben müssen. Die Kräftigeren unter ihnen seien oft ausgewählt worden und als Erntehelfer auf die umliegenden Höfe gebracht worden. Bei manchen Besuchen im Lager habe sie auch Berge von Leichen gesehen, die offenbar nicht einmal ordentlich beerdigt worden sein. Tatsächlich gab es auf dem Lagergelände, als sie ersten Gefangenen im Sommer 1941 ankamen, noch keinerlei Unterkünfte auf dem Gelände.

Die Gefangenen hoben Erdlöcher aus, um sich vor der Witterung zu schützen. Erst später entstanden notdürftige Baracken. Insgesamt sollen 300.000 Gefangene aus den Ländern der früheren Sowjetunion das Lager durchlaufen haben. Die genaue Zahl der Toten ist nicht bekannt, es sollen bis zu 65.000 gewesen sein. Viele von ihnen sind in Massengräbern oder Einzelgräbern auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof in unmittelbarer Nähe des Lagers beerdigt.

Bahnübergang übersehen

Margret Botschens Arbeit als DRK-Helferin endete im Herbst 1944 abrupt. Als sie wieder einmal in einer Bombennacht durch die totale Dunkelheit fahren musste, übersah sie einen Bahnübergang, durchbrach die Schranke und blieb mit dem Wagen auf dem Bahnübergang liegen. Mit dem Sanitäter zusammen holte sie schnell die Patientin, die transportiert wurde, aus dem Wagen.

Als sie dann noch einmal versuchte, den Krankenwagen vom Übergang zu entfernen, wurde der Wagen von dem heraneilenden Zug erfasst und Botschen schwer verletzt. Von SS-Leuten wurde sie beschuldigt, eine Spionin zu sein. Sie habe den Krankenwagen mit Absicht auf die Schienen gelenkt, um den Zug mit heereswichtigen Gütern aufzuhalten. Vor einem NS-Gericht im Paderborner Rathaus sei sie zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden.

Dank guter Beziehungen ihrer Eltern sei das Urteil dann in eine hohe Geldstrafe umgewandelt worden. Zeit ihres Lebens habe sie, sagt Margret Botschen, über die schlimmen Verbrechen in der Nazi-Zeit und über die Ursachen gegrübelt. Und dass so viele Menschen unbarmherzig mit ihren Opfern umgegangen seien. „Wo kommt das Böse in den Menschen wohl her", fragt sie sich bis heute.

INFORMATION


Heimatbund befragt Zeitzeugen

Ein Lenkungskreis unter der Leitung von Landtagspräsident André Kuper (CDU) will dafür sorgen, dass die Dokumentationsstätte Stalag 326 zu einer Gedenkstätte mit nationaler Bedeutung aufgewertet wird.
Wichtige Voraussetzung dafür ist eine weitere wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschehnisse in dem Lager in der Senne. Im März ist ein wissenschaftliches Symposium an der Universität Bielefeld geplant. Außerdem will der Westfälische Heimatbund seine mehr als 5.009 Mitgliedsvereine (insgesamt rund 130.000 Mitglieder) auffordern, mit Zeitzeugen über das Lager in Stukenbrock-Senne zu sprechen.