
Bielefeld. Enes Karabulut bekommt eine SMS. "Hast du Lust auf ein Eis?", fragt ein Freund. "Gerne", antwortet Enes. "Wann sollen wir uns treffen?", erwidert der Freund. "In vier Wochen", antwortet Enes. Der 20-Jährige sitzt im Rollstuhl. Die öffentlichen Verkehrsmittel kann er nicht nutzen, da sie nicht barrierefrei sind. Deshalb nimmt er einen Fahrdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Anspruch. Diesen Dienst muss der 20-Jährige allerdings vier Wochen vorher bestellen. Spontan mit Freunden verabreden - unmöglich.
So wie Enes dürfte es vielen behinderten Menschen in Bielefeld gehen. Aus diesem Grund haben Betroffene in einem Protestmarsch für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung demonstriert. Im Fokus des Marsches, vom Bahnhof zum Rathausplatz, stand vor allem der Abbau von Barrieren, aber auch von Vorurteilen in den Köpfen der Gesellschaft.
"Menschen mit Handicap werden nicht ernst genommen", bemängelt Torsten Schröter, der selbst mit einer Lernbehinderung zu kämpfen hat. "Gegen diese Vorurteile in den Köpfen anzukämpfen, ist besonders schwierig", sagt Bianca Ladwig, geschäftsführender Vorstand des Vereins für Psychatrie-Erfahrene und Mitorganisatorin des Protestmarsches.
Barrierefreiheit beginnt in den Köpfen
Deshalb fordert Ladwig "Inklusion von Anfang an". Kinder sollen bereits in Kitas und Grundschulen den richtigen Umgang mit behinderten Menschen vermittelt bekommen. "Wenn ein Kind mit Behinderung immer eine Sonderstellung hat, ist es schwieriger, sich in der Gesellschaft einzubringen", erklärt Ladwig. Eine Lösung sei es, getrennte Systeme aufzubrechen und behinderte Schüler mit "normalen" Schülern zusammenzubringen, so Sozialdezernent Ingo Nürnberger.
Dabei dürften nicht nur sichtbare Behinderungen eine Rolle spielen, sondern beispielsweise auch psychische Erkrankungen. Bianca Ladwig kennt das selbst nur zu gut. Die 42-Jährige hat aufgrund von Gewalterfahrungen eine posttraumatische Belastungsstörung davongetragen. Ladwig hat mit Depressionen und Panikattacken zu kämpfen, war lange arbeitsunfähig. In der Gesellschaft fühlte sie sich abgewertet. "Die Leute fragten sich, wann ich wohl wieder austicke", sagt sie. Ladwig fordert deshalb mehr Anerkennung und Verständnis in der Gesellschaft.

"Mit dem Protestmarsch wollen wir Aufmerksamkeit erzeugen", sagt Karen Harper, Fachkraft für Arbeit und Berufsförderung von der Bethel-Werkstatt Prowerk. "Gerechtigkeit", wünscht sich Jörg Schroeder. "Behinderte Menschen sollen auf eine Stufe mit 'normalen' Menschen gestellt werden", fordert er. Das soll vor allem im Lohn sichtbar werden. Menschen mit Handicap, die in einer Behindertenwerkstatt arbeiten, erhalten neben einer Grundsicherung auch einen leistungsbezogenen Lohn. "Viele Menschen würden für so einen Lohn nicht aufstehen", betont Torsten Schröter.
Im Blickpunkt des Protestes stand zudem die Barrierefreiheit der öffentlichen Verkehrsmittel. Laut Ladwig liege Bielefeld in einem "ungünstigen Mittelfeld". "Man kann deutlich nach unten schauen, aber auch deutlich nach oben." Oft genug sei auf Probleme an Bus- und Bahnsteigen hingewiesen worden und mehr Hochbahnsteige gefordert worden. Gehandelt wurde nicht. "Bestehende Systeme zu ändern braucht Zeit. Deshalb dauert es lange, bis Forderungen umgesetzt werden", erklärt Ladwig. Zudem würden Behinderte zu wenig in die Planungen der Stadt miteinbezogen werden.
Ein entsprechendes Beispiel hat das Puppentheater von Dagmar Selje umgesetzt. Dort können körperlich beeinträchtigte Personen mit einem sogenannten Treppensteiger die zuvor unüberwindbare Treppe im Theater nutzen.
Bianca Ladwig blickt indes nach vorne. "Wenn nur ein Punkt unserer Forderungen umgesetzt werden kann, hat sich der Protest schon gelohnt", sagt sie.