Kultur

"68" von Karin Wetterau: „Ein emanzipatorischer Aufbruch“

Gespräch mit Karin Wetterau über ihr Buch „68“

Führte 22 Interviews: Karin Wetterau beim Gespräch über ihr Buch, das im Bielefelder Aisthesis Verlag erschienen ist. | © Andreas Frücht

Stefan Brams
22.03.2017 | 22.03.2017, 06:00

Interview mit Karin Wetterau über ihr Buch „68", ihre Interviews mit Ehemaligen der Studentenbewegung, den Weg Linker nach Rechtsaußen sowie Erfolge und Irrtümer der Aktivisten.

Frau Wetterau, Sie haben Ihr Buch als „Familienroman" betitelt. Es ist aber kein Roman sondern ein Sachbuch. Warum diese Bezeichnung?
Karin Wetterau: Der Begriff ist Freuds Psychoanalyse entlehnt und beschreibt den entwicklungspsychologisch notwendigen und zugleich schmerzhaften Ablösungsprozess der nachfolgenden Generation von den Eltern. Die kollektive Abgrenzung der 68er von der in den Nationalsozialismus verstrickten Elterngeneration gleicht diesem Vorgang. Roman deshalb, weil die Erinnerungen der Zeitzeugen nie wiedergeben, wie es wirklich war, sondern wie die Beteiligten ihre Geschichte deuten. In diesem Sinn wird die Revolte von mir als „Familienroman" erzählt.

Das Buch "68". - © aisthesis
Das Buch "68". | © aisthesis

Sie haben Zeitzeugen interviewt. Nach welchen Kriterien haben Sie sie ausgewählt?
Wetterau:
Der Anlass, mich überhaupt mit dem Thema zu befassen, war die Rechtsradikalisierung ehemaliger linker Führungsfiguren aus der Studentenbewegung. Dazu habe ich Bernd Rabehl interviewt, der einst ein führender Kopf der Bewegung war und seit einiger Zeit als Nationalrevolutionär im rechtsradikalen Lager und im Dunstkreis der NPD agiert. Er behauptet, die linke Studentenbewegung sei Ausdruck einer nationalen Empörung gewesen, insofern sei er seinem Denken treu geblieben. Ehemalige Mitstreiter aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) sind dem öffentlich entgegengetreten. Über sie habe ich weitere Kontakte erhalten und insgesamt 22 Interviews für mein Buch geführt und das Thema viel weiter gefasst als geplant.

Was verbindet die 68er in ihren Interviews?
Wetterau: Ich bin ja selbst eine 68erin und habe immer angenommen, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, auch als verdrängte Familiengeschichte, sei das Verbindende dieser politischen Generation. Da hat es mich schon sehr überrascht, dass viele der Befragten betont haben, Vergangenheitsbewältigung habe 1968 keine Rolle gespielt. Auf der Agenda standen vielmehr der Vietnamkrieg, die Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt", die Hochschulpolitik sowie ein von der Popkultur inspiriertes Lebensgefühl. Eins wird in den Gesprächen klar, eine idealtypische 68er-Biografie gibt es nicht.

Dass die Bewältigung der NS-Vergangenheit nicht der Motor der 68er gewesen sein soll, klingt in der Tat überraschend. Wie bewerten Sie die Einschätzung? Wetterau: Ich halte das für einen Scheinwiderspruch. In den Interviews wird deutlich, dass das Thema im Vorfeld der Bewegung im SDS – also Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre – eine große Rolle gespielt hat und gewissermaßen die Hintergrundfolie und den Deutungshorizont für die großen politischen Themen der 68er-Bewegung abgegeben hat. Der Bezug zur NS-Thematik war unterschwellig immer präsent und schließlich sind es die 68er, die die Aufarbeitung der NS-Verbrechensgeschichte vorangetrieben haben und eine Erinnerungskultur etabliert haben, die inzwischen weltweit als vorbildlich gilt. Sich der internationalen Protestbewegung anzuschließen und Solidarität mit den Guerillakämpfern in Lateinamerika zu demonstrieren, sei eben viel einfacher gewesen, betont einer der von mir Befragten, als sich der eigenen Geschichte und Familiengeschichte zu stellen.

Sie haben vorhin gesagt, dass Ihr Forschungsinteresse ursprünglich ehemaligen 68ern galt, die sich später politisch weit nach rechts orientiert haben. Wie erklären Sie sich solche politischen Karrieren?
Wetterau: Eine Erklärung habe ich nicht, aber ich vermute, dass sich trotz der Abgrenzung von der Generation der Eltern bis hin zum offenen Bruch auf unterirdischen Kanälen und über emotionale Bindungen dennoch Einstellungen und Verhaltensmuster tradiert haben, die diesem erstaunlichen Renegatentum den Boden bereitet haben. Horst Mahler zum Beispiel erklärt seinen Weg von ganz links nach extrem rechts mit der Liebe zu seinem Vater, einem glühender Hitler-Anhänger, der sich umgebracht habe, weil er den Untergang des „Dritten Reichs" 1945 nicht verkraftete. Mahler, der heute den Holocaust leugnet, sieht sich nach eigenem Bekunden in der Pflicht, zu kämpfen, wofür sein Vater gekämpft habe. Ich empfinde das als eine besonders bizarre Form der deutschen Tragödie.

Waren die 68er ihren Eltern von der Mentalität womöglich doch ähnlicher als sie dachten?
Wetterau: Das lässt sich durch meine Interviews nicht belegen. Als beteiligte Zeitzeugin kann ich allerdings sagen, dass autoritäre Charakterstrukturen bei vielen Aktivisten durchaus zu beobachten waren. Was vielleicht auch erklärt, dass die antiautoritäre Emphase der Studentenbewegung in den rigiden Autoritarismus der K-Gruppen umschlug und für einige gar den Weg in den Terrorismus geebnet hat.

Was haben die 68er letztendlich bewirkt in diesem Land?
Wetterau
: Sie haben die Republik nachhaltig mitverändert. Aber nicht im Sinne des proklamierten Ziels, den Kapitalismus zu überwinden und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Davon hat sich nichts erfüllt. Aber die 68er haben dem Land einen Demokratisierungsschub gebracht und mit dazu beigetragen, dass wir heute ein offenes, demokratisches Klima haben.

Was waren die größten Irrtümer der 68er?
Wetterau:
68 war keine homogene Bewegung, sondern ein emanzipatorischer Aufbruch, in dem unterschiedlichste Strömungen zusammenflossen. Erst im Zerfallsprozess nach 68 werden Irrtümer und Irrwege sichtbar. Der Weg in die Gewalt, der Terror der RAF und die Rigidität der K-Gruppen stehen dafür. Im bedenkenlosen, vermeintlich revolutionären Aktionismus äußert sich eine erschreckende Realitätsverweigerung.

Haben Sie Angst vor einem Rollback unserer offenen Gesellschaft?
Wetterau: Ja, und es beunruhigt mich sehr, dass einige der 68er Aktivisten heute bei rechten Organisationen als Vordenker aktiv sind und gegen die damals erkämpften Errungenschaften agitieren. Sie drehen die linke Rhetorik um und füllen sie mit rechten Inhalten. Insbesondere die Renaissance eines fremdenfeindlichen Nationalismus finde ich besorgniserregend, gerade auch hierzulande, wo wir auch dank der 68er Bewegung lange Zeit immun dagegen zu sein schienen.

INFORMATION


  • Karin Wetterau, Jahrgang 1945, studierte Germanistik und Geschichte an den Unis Kiel und Berlin und erlebte den studentischen Aufbruch als beteiligte Zeitzeugin an der Freien Universität.
  • Sie war Lehrerin in der Erzieher-Ausbildung, danach Lehrerin im Zweiten Bildungsweg und am Gymnasium. Seit Anfang der 90er Jahre Lehrbeauftragte und Lehrerin im Hochschuldienst an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.
  • Karin Wetterau lebt in Bielefeld und Italien.
  • Karin Wetterau: „68 – Täterkinder und Rebellen. Familienroman einer Revolte", 326 S., Aisthesis, Bielefeld, 28 ð