Wie grün sind die Grünen?

Münster/Wuppertal. Momentan läuft es für die Grünen. Die Partei holte bei den NRW-Kommunalwahlen im September gute Ergebnisse. In Baden-Württemberg wurden die Grünen erneut stärkste Kraft - mit einem historisch guten Ergebnis. Im Herbst wollen sie das Kanzleramt erobern. Momentan schwimmt die Partei um das Führungsduo Annalena Baerbock und Robert Habeck auf der Erfolgswelle. Das hat Konsequenzen im Hinblick auf die Bundestagswahlen. Laut einer Forsa-Umfrage würden die Grünen auf 23 Prozent kommen und lägen nur noch vier Prozent hinter der Union. Doch warum sind die Grünen jetzt so stark? Und wie grün ist die Partei noch? Politikwissenschaftler geben Antworten zu den wichtigsten Fragen. Wie wichtig sind Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes geworden? Niko Switek, Universität Washington: Als sich die Grünen in den 1980er Jahren gründeten, waren das noch Außenseiterthemen, aber Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes sind inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es gibt klare wissenschaftliche Erkenntnisse, dass wir in vielen Bereichen massiv umsteuern müssen, um dramatische Veränderungen zu verhindern. Hans J. Lietzmann, Bergische Universität Wuppertal: Umwelt- und Klimaschutz gehören zu den wichtigsten Politikfeldern der vergangenen Jahre. Es ist nichts Exotisches und kein Randthema mehr. Die Themen haben die Mitte der Gesellschaft erreicht. Norbert Kersting, Universität Münster: Mittlerweile glaubt so gut wie niemand mehr, dass es beim Klima keine Veränderungen gibt. Viele Wissenschaftler sorgen mit ihrer Forschung für die entsprechenden Belege. Das sehen auch die Jugendlichen, die es letztlich stärker betrifft und die es ausbaden müssen. Und die haben keine Geduld mehr mit den großen, traditionellen Institutionen. Sind die Grünen immer noch Vorreiter in Sachen Klimaschutz? Switek: Sie haben auf jeden Fall den Vorteil, dass sie als das Original angesehen werden und bei Befragungen die höchsten Kompetenzwerte in dem Feld zugeschrieben bekommen. Aber die Grünen sind mit der Etablierung weniger radikal und moderater geworden und sehen notwendige Maßnahmen auch mehr in einem Gesamtpaket. Und durch die vielen Beteiligungen an Landesregierungen sind sie auch mehr Sachzwängen unterworfen, der grüne Ministerpräsident Kretschmann im Automobilland Baden-Württemberg ist dafür ja ein gutes Beispiel. Sie haben dadurch durchaus Platz frei gemacht, für neue Bewegungen, die mehr Radikalität und massivere Einschnitte fordern. Und die anderen linken Parteien, SPD und Linke, haben Klimapolitik auch zu wichtigen Themen in ihren Programmen gemacht und damit aufgeholt. Lietzmann: Die Grünen sind eindeutig das Original. Vor allem inhaltlich sind sie die Vorreiter, haben den Pfad gelegt und legen ihn nach wie vor. Bei allen anderen Parteien ist der Umweltschutz ein Zusatzpaket. Bei den Grünen ist das ein Querschnittsthema. Umweltschutz in allen Belangen. Wie würden Sie das Verhältnis zu Klimabewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion charakterisieren? Switek: Durch den Prozess der Etablierung und Normalisierung haben die Grünen an Radikalität verloren, diese formulieren jetzt diese neuen Bewegungen. Auch wenn die Grünen als ein Hauptthema die Ökologie haben, sind sie aber auch breiter aufgestellt und haben zu mehr politischen Themen Positionen. Die Bewegungen fokussieren gezielt auf das Thema Klima und wollen mit Radikalität und Kompromisslosigkeit mobilisieren, aber es gibt durchaus auch Überlappungen zu den Grünen. Die Grünen versuchen sich als natürlicher Verbündeter dieser Gruppen zu positionieren, schwierig würde es aber, wenn diese etwa anfingen, ebenfalls Wahllisten aufzustellen oder in die Parlamente zu drängen. Lietzmann: Die Grünen sind das Mutterschiff, andere Gruppen sind die Beiboote, die lose Verbindungen mit den Grünen unterhalten. Die Partei ist hauptsächlich in den Parlamenten aktiv und die Bewegungen auf der Straße. Mit Blick auf eine mögliche Regierungsbeteiligung der Grünen auf Bundesebene: Wie "grün" können die Grünen überhaupt noch sein? Switek: Das hängt sehr von der Konstellation ab, über die verhandelt wird. Aber da alle Parteien außer der AfD grundsätzlich übereinstimmen, dass hier etwas getan werden muss, wird man sich in dem Feld einigen können und werden sich die anderen auch eher auf die Grünen zu bewegen. Kompromisse gehören zur Koalitionsbildung immer dazu, und die Jamaika-Sondierungen 2017 haben ja gezeigt, dass selbst mit Union und FDP zumindest ein gewisser Rahmen besteht. Schwieriger wird es eher bei anderen Themen, wie Zuwanderung und Integration. Die Konkurrenz durch und Kritik von den neuen Bewegungen wird es so oder so geben, ob die Grünen in der Opposition oder in der Regierung sind. Lietzmann: Die Grünen würden versuchen, ihr Querschnittsthema Umweltschutz in alle Politikbereiche hineinzutragen. Das wird auf Widerstand stoßen. Die CDU wird sich bei Themen im Wirtschafts- und Finanzbereich schwertun. Da muss man sehen, wie das auf Bundesebene geht. Kersting: Wenn eine Partei mehrheitsfähig sein will, wenn sie regieren will, dann kann sie nicht überall stark fundamentalistische rote Linien ziehen. Die Grünen haben über die Jahre gelernt, dass sie in der Opposition gut ihre Positionen vertreten können, ohne etwas zu bewegen. In einer Regierung müssen die Grünen Kompromissbereitschaft zeigen. Dadurch rücken sie zwar von gewissen Punkten ab, müssen einige ihrer 'heiligen grünen Kühe' opfern. Doch damit können sie überhaupt dafür sorgen, dass sich etwas in die gewünschte Richtung bewegt. Ihr Fazit: Wie grün sind die Grünen? Switek: Ökologie ist weiter ein Kern der Plattform der Grünen, sie ist oft Grund für eine Parteimitgliedschaft oder für eine Wahlentscheidung für die Partei, aber ihre Forderungen in diesem Feld sind moderater geworden und sie haben nicht mehr den Vorteil, die einzigen Vertreter dieser Positionen zu sein. Lietzmann: Die Partei ist mittlerweile "anders" grün als noch bei ihrer Gründung oder beim Regierungsantritt 1998. Die Grünen regieren in elf Ländern mit. Hier sind sie professionelle Politikmanager und erstaunlich skandalarm unterwegs. Ohnehin tritt die Partei sehr kompakt auf, eine Aufspaltung in verschiedene Flügel ist nicht vorhanden. Allerdings können sie keine Partei der reinen Lehre sein, weil Kompromisse die Kanten verwischen. Trotzdem arbeiten sie an einer konsequenten Durchsetzung ihrer Programmatik.