
Halle. Beim Tennisturnier in Halle schrieb Andrei Medwedew ein ganz frühes Kapitel: Bei der ersten Austragung der damaligen Gerry Weber Open wurde der Ukrainer 1993 Zweiter - in zwei Sätzen unterlag er dem damals 18-jährigen Debütsieger Henri Leconte. Es sollte das einzige Rasen-Finale des Sandspezialisten bleiben, der in seiner Karriere zwischen 1992 und 1997 elf ATP-Titel gewann. In dieser Zeit war Medwedew immer wieder zu Gast in Ostwestfalen, er galt als ein gern gesehener Entertainer, der mit Worten genauso gut umgehen konnte wie mit dem Schläger.
29 Jahre nach seinem Premierenauftritt flogen Medwedew die Sympathien des Publikums an diesem Wochenende zu – obgleich er natürlich kein Teil des Hauptfeldes mehr war. Der mittlerweile 47-jährige Medwedew, 1999 Finalist in einem historischen French-Open-Endspiel gegen Andre Agassi, ist mitten im russischen Angriffskrieg gegen sein Heimatland Ukraine nach Ostwestfalen gekommen. Eigentlich war die Planung eine andere: Der Österreicher Thomas Muster sollte bei der "Champions Trophy", der traditionellen Show-Eröffnung der Tenniswoche, neben Tommy Haas, Mansour Bahrami und Younes El Aynaoui antreten. Der aber fiel verletzungsbedingt aus.
Beklemmende Reise durch Butscha und Irpin
Als Turnierchef Ralf Weber bei Medwedew anrief und fragte, ob er sich einen Auftritt vorstellen könnte, setzte Medwedew alle Hebel in Bewegung, um eine Genehmigung für das Tennismatch in Deutschland zu bekommen. „Solche Anträge werden in der Regel genehmigt, wenn es sich um sportliche Anlässe mit Ausstrahlung und Bedeutung handelt“, sagt Medwedew, „ich war mir eigentlich sicher, dass es klappt. Und nach einiger Wartezeit war das Okay dann auch da.“
Die 1.980 Kilometer von Kiew bis nach Halle legte er in zwei Etappen zurück, mit einer Pause an der polnisch-ukrainischen Grenze. Die Routen in Richtung Westen seien einigermaßen sicher, sagt Medwedew, „ganz genau weiß man es allerdings auch nicht.“ Er passierte auf dem Weg nach Deutschland auch die Schreckensorte Butscha und Irpin, in denen russische Truppen ein Massaker vollzogen und etliche Zivilisten auf offener Straße ermordeten.
Viele Wochen danach sehe man nicht mehr alles von den schlimmsten Gräueln des Krieges, aber es sei „ein beklemmendes Gefühl, etwas, das man nicht schildern kann.“
Teil der ukrainischen Reservearmee
In Halle will Medwedew auch ein wenig abschalten nach den letzten Monaten, die ihm immer noch unwirklich vorkommen: „Ich hätte nie mit dem gerechnet, was unserem Land nun passiert ist.“ Medwedew war im März der ukrainischen Reservearmee beigetreten, bereit, ihr Heimatland mit ihrem Leben zu verteidigen. Vor ein paar Wochen wäre es ihm „sicher noch schwergefallen“, einer Bitte wie der von Ralf Weber zuzustimmen, so Medwedew: „Da hatte ich irgendwie komplett mein Lächeln verloren, meine Positivität.“ Dann habe er aber wieder Hoffnung geschöpft, Zuversicht gefunden. „Auch, weil ich wieder mit meiner Familie zusammen war.“
Die war bereits frühzeitig ins Ausland geflohen: Eine ähnliche Strecke hatte etwa vor drei Monaten bereits unter noch viel größerem Risiko seine Schwester Natalija, einst selbst erfolgreiche Tennisspielerin mit vier WTA-Einzel- sowie zwölf Doppeltiteln, mit ihrem Sohn zurückgelegt. Sie arbeitet nun in den Niederlanden und gehörte zu den vielen Zuschauern, die sich das Showevent am Sonntagnachmittag anschauten. 8.000 Karten waren laut der Turnierveranstalter abgesetzt worden.
„Es ist unglaublich, was hier im Laufe der Zeit entstanden ist“, sagt Medwedew, „ein Turnier, das in der ganzen Welt bekannt ist und von den Profis geschätzt wird.“ Und dann schweifen seine Gedanken doch noch einmal kurz in die Heimat ab, zu einem großen Tenniszentrum nahe der Hauptstadt Kiew. „Dort sind bis vor kurzem noch alle möglichen Meisterschaften ausgetragen worden. Nun wurde es im Krieg aber vollständig zerstört. Es ist ein Elend“, so Medwedew. Und stellt die Frage: „Warum das alles?“