Löws Taktik und Aufstellung sorgen bei Experten für Kopfschütteln

München. Der Abgrund war nur sechs Minuten entfernt. Erst ein Gewaltschuss von Leon Goretzka zum 2:2 gegen Ungarn kurz vor Schluss hat die nächste historische Schmach für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft verhindert. Zum letzten Mal war die DFB-Elf 2004 in einer EM-Vorrunde ausgeschieden. Zeit für eine schonungslose Analyse. Beinahe wäre die deutsche Auswahl als Letzter in Gruppe F ausgeschieden. Wie schon als Titelverteidiger bei der WM 2018, die als eine der größten Demütigungen in die DFB-Annalen eingegangen ist. Diesmal ging es gerade noch gut. Die DFB-Elf reist weiter zum Achtelfinale nach London, wo am Dienstag (18 Uhr, ARD) eines der größten Prestigeduelle des internationalen Fußballs angepfiffen wird. England gegen Deutschland. Stümperhafte Versuche der deutschen Mannschaft &bdquo;Ein schöneres Spiel gibt es nicht, geil", sagte Kimmich. &bdquo;Wir haben auf jeden Fall noch Luft nach oben und werden das gegen England zeigen." Luft nach oben wirkt leicht untertrieben. Denn an diesem gewittrigen Sommerabend in München wäre beinahe alles zusammengekommen. Ein früher Rückstand, der dem ungarischen Raumverdichtungsplan zusätzliche Überzeugung verlieh, und auf den unzureichende bis stümperhafte deutsche Versuche folgten, Lücken im Abwehrverbund zu finden. Als der Platzregen verebbt war und Kai Havertz den Ausgleich erzielt hatte (66.), fing sich die DFB-Elf postwendend und tölpelhaft das nächste Gegentor: Andras Schäfer (68.) köpfte ein, auch weil Manuel Neuer übermotiviert die Linie verlassen hatte. Fünf Gegentore in drei Spielen, fast noch nichts gehalten – es ist bisher nicht die EM des fünfmaligen Welt-Torhüters. &bdquo;So etwas darf nicht passieren, wenn du in einem Turnier was erreichen willst", tadelte Matchwinner Goretzka die deutsche Naivität nach dem Ausgleich. Die deutsche Elf wirkt nach einer wechselhaften Vorrunde wie eine Baustelle, auf der die Arbeiten der Handwerker nicht ineinander greifen. Das dreht den Fokus auf den scheidenden Bundestrainer, der in München beinahe seinen letzten Arbeitstag beim DFB erlebt hätte. &bdquo;Die Ungarn haben genau so gespielt, wie es zu erwarten war, aber wir haben trotzdem keine Möglichkeiten gefunden, oder schon im Vorfeld nicht die Antworten darauf, der Trainer nicht die Aufstellung, die richtige Formation, um dieses Spiel zu gewinnen. Im Gegenteil: Wir mussten bis zum Schluss zittern, um überhaupt unentschieden zu spielen", kritisierte Michael Ballack als Experte bei MagentaTV. Die Entscheidung für Sané erwies sich als falsch Nun ist der ehemalige &bdquo;Capitano" seit seiner Ausbootung 2011 kein Jogi-Freund mehr – aber Ballack machte einen Punkt: Es gehört zum Aufgabengebiet des Trainer-Teams, auch gegen extrem tief stehende Teams wie Ungarn Lösungen einzuüben, um Chancen herauszuspielen und nicht anfällig für Konter zu sein. Beides gelang nicht, was auch Löws Schuld war. Seine Entscheidung, in der Offensive auf Leroy Sané als Vertreter des angeschlagenen Thomas Müller zu setzen, erwies sich als falsch. Es lag nicht am Engagement, aber der 25-Jährige vom FC Bayern erlebte wieder einen fehlerbehafteten Auftritt. Als Sané in der zweiten Halbzeit fachfremd auf der rechten Mittelfeld-Position von Löw auch mit Defensivaufgaben betraut wurde, entwickelte er sich zu einem echten Sicherheitsrisiko – beim 1:2 eskortierte er Torschütze Schäfer. &bdquo;Leroy kam nicht so ins Spiel", urteilte der Bundestrainer milde. Es wirkte so, als wolle Löw sofort zur Tagesordnung übergehen. &bdquo;Wir haben Fehler gemacht, aber es war eins der schwierigsten Spiele überhaupt. Die Ungarn bringen den Gegner schier in Verzweiflung mit ihrer defensiven Organisation und ihrem Zweikampfverhalten", resümierte der 61-Jährige: "Wir haben keine Räume gefunden. Wenn man dann zweimal in Rückstand gerät, wird es immens schwierig". Immerhin habe die Mannschaft &bdquo;eine extrem gute Mentalität und viel Moral" gezeigt. Mats Hummels bringt noch keine Stabilität Eine dünne Analyse der gravierenden deutschen Defizite. Neben der Ideenlosigkeit im Spiel nach vorn machen auch das Defensivverhalten und die Struktur im Spiel große Sorgen. Routinier Mats Hummels hat nicht die erhoffte Stabilität zurückgebracht, von Toni Kroos und Ilkay Gündogan kamen nicht die nötigen Impulse, um hinter das ungarische Abwehr-Bollwerk zu gelangen. Mehr noch: In der chaotischen Schlussphase war von geordnetem Spielaufbau nichts mehr zu erkennen. Löws ehemaliger Kapitän stellte die Systemfrage. &bdquo;Wir sollten eine Formation finden, in der sich die Spieler wohlfühlen und sich zu Hause fühlen. Wir spielen ein System, das viele Spieler aus ihren Vereinen nicht kennen und sind deswegen noch in der Findungsphase", kritisierte Michael Ballack. Aber auch die Umstellung auf eine Viererkette dürfte nichts bringen, solange sich die Offensivspieler so wenig und so schlecht bewegen wie gegen Ungarn. Havertz etwa wirkte trotz seines Tores, als habe er seinen untalentierten Zwilling nach München geschickt. Reichen ein paar Korrekturen aus? Die Diskussionen, ob Kimmich als Strukturgeber nicht besser im zentralen Mittelfeld aufgehoben ist und wie er Retter Goretzka ins Team einzubauen gedenkt, wird Löw nun beschäftigen. &bdquo;Jetzt ist diese Vorrunde abgehakt. Jetzt geht es um ,alles oder nichts", sagte er. England werde anders als Ungarn ein offenes Duell anbieten. &bdquo;Sie müssen zu Hause sicherlich auch nach vorn spielen. Das wird ein ganz anderes Spiel. Wir müssen ein paar Dinge korrigieren und absolut auf der Hut sein", forderte Löw. Im Gegensatz zu den ungarischen Defensivkünstlern stehen die &bdquo;Three Lions" grundsätzlich für dominanten Fußball, der aber auch Räume lassen dürfte, die die Deutschen bespielen könnten – ähnlich wie beim 4:2 gegen Portugal. Verlockende Perspektiven. Doch auf der deutschen Baustelle ist vorher noch viel zu tun.

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