Arminia-Coach Kramer: "Bielefeld ist in vielerlei Hinsicht anders"

Herr Kramer, Stuttgart wurde vor einer Woche wieder Schauplatz eines ganz wichtigen Arminia-Sieges. Gab es Parallelen zum Klassenerhalt im Mai?Frank Kramer: Wie die Mannschaft die Situation angenommen hat, hat mich an damals erinnert. Es war extremer Aufwand, den die Mannschaft geleistet hat. Dazu kam der Zusammenhalt. Emotional war es im Mai anders, es war damals das absolute Finale. Vorher konntest und kannst du dich nie so richtig ausgelassen freuen, denn zum Schluss wird abgerechnet. Nichtsdestotrotz war da ein Glücksgefühl, das schwer zu beschreiben ist. Weil es das im alltäglichen Leben so nicht gibt. Das macht für mich auch den Unterschied zu anderen Berufen aus. Wie schätzen Sie die gegenwärtige Lage im Abstiegskampf ein? Schauen Sie auf die Tabelle?Jeder macht das immer mal wieder. Man darf sich nur nicht von der Tabelle leiten lassen. Durch unseren Erfolg ist es jetzt wieder enger, wir sind näher herangerückt. Wenn wir es wie vergangene Saison bis zum Schluss schaffen, mit im Rennen zu sein, haben wir als Arminia Bielefeld sehr viel richtig gemacht. Und wenn wir es am Ende wieder hinbekommen, den Klassenerhalt zu schaffen, wäre es eine Riesenleistung. Ihr Vorgänger Uwe Neuhaus hatte als Aufstiegstrainer bis zu seiner Entlassung riesigen Kredit im Umfeld. Sie haben den DSC in der Bundesliga gehalten, trotzdem gab es von den Tribünen nach dem Mainz-Spiel Rufe gegen Sie. Finden Sie das gerecht?Zunächst einmal ist Arminia mit Uwe Neuhaus aufgestiegen, das war eine tolle Leistung. Wir haben dann den Klassenerhalt gepackt. Und wer darauf gewettet hatte, ist nun wohl um einiges reicher, weil damit keiner gerechnet hatte. Alles andere ist auch von Emotionen geprägt: Ich bin erst seit gut acht Monaten hier, Uwe konnte den Weg mit Arminia länger gehen. Dazu waren die Menschen damals in einer erfolgreichen Zeit im Stadion dabei. Den Klassenerhalt mussten sie leider vor dem Fernseher mitverfolgen, deswegen wächst das alles anders zusammen. Ich fühle mich aber total unterstützt. Wenn ich beispielsweise im Park joggen gehe und Leute treffe, dann habe ich bislang nur Zuspruch erhalten. Das stimmt uns positiv und optimistisch. Auch Spieler sind in die Kritik geraten und hatten einen schweren Stand.Irgendwo gibt es dieses Ventil für Unzufriedenheit bei jedem Einzelnen. Die negativen Emotionen, welche sich auch im Alltag und insbesondere in dieser schwierigen Coronazeit anstauen, werden dann einfach abgelassen. Ich wünsche mir aber, dass alle Arminen eines berücksichtigen: Wir haben eine junge Mannschaft, Arminia in der Bundesliga ist keine Selbstverständlichkeit und wir müssen uns das vor allem über Zusammenhalt und positive Energie gemeinsam erarbeiten. Damit können wir viel mehr erreichen als mit Unmutsbekundungen, die junge Menschen runterziehen. Denn davon wird ein 22- oder 23-Jähriger sicherlich nicht besser. Ich würde mir wünschen, dass wir die positiv unterstützende Symbiose als Arminia-Familie, für welche die Arminia immer steht, wieder hinbekommen. Haben die Fans zu hohe Erwartungen?Der Weg wird für Arminia Bielefeld in der Bundesliga immer etwas holprig sein, das sollte jedem bewusst sein. Der Mensch vergisst aber halt auch schnell. Oft steigt die Erwartungshaltung schneller, als die Sache wachsen kann. Das geht uns ja allen so: Fahren wir eine A-Klasse muss es nach der Beförderung schon eine C-Klasse sein, und dann als Nächstes eine S-Klasse. Wir sind immer ambitioniert und streben den maximalen Erfolg an, aber wissen die Situation auch einzuordnen. Vor einer Woche hat sich die Klubführung festgelegt: Wir gehen mit Frank Kramer auch in die neue Saison, ganz unabhängig von Ergebnissen. Ein in der Branche ungewöhnlicher Treueschwur.Das ist eine außergewöhnliche Haltung und zeigt auch, dass Bielefeld in vielerlei Hinsicht ein bisschen anders ist. Ich bin sehr dankbar für diese Unterstützung und glaube, dass es für alle sowohl in der Kabine, dem ganzen Team Zusammenhalt und Überzeugung demonstriert. So, wie es andere Vereine wie Mainz oder Freiburg, die für uns die Entwicklung betreffend immer ein Stück weit Vorbildcharakter haben, es schon vorgelebt haben. Christian Streich dürfte allein aufgrund seines Status in Freiburg für Trainer ebenso ein Vorbild sein.Natürlich wünscht man sich das. Und ich kann mir auch sehr gut vorstellen, eine lange Zeit hier zu bleiben, weil ich mich hier absolut wohlfühle. Wenn meine Familie in den Ferien herkommt, ist es genauso: Wir fühlen uns sehr gut aufgehoben. Ich verstehe manchmal gar nicht, warum die Ostwestfalen mit sich so hart ins Gericht gehen. Ich nehme die Menschen als sehr angenehm und offen wahr. Mit der Mentalität, diese Bodenständigkeit, damit kommen wir super klar. Hinter dem Bekenntnis steckt zwangsläufig auch ein langfristiger Plan. Was haben Sie mit Arminia vor?Wir wollen uns zusammen und die Qualität der Einzelspieler weiterentwickeln. Durch die Altersstruktur im Kader hat der Verein eine gute Perspektive für die nächsten Jahre geschaffen, weil die neuen Spieler alle langfristige Verträge haben. Für sie ist das der Startpunkt in der Bundesliga, für fast alle ist es Neuland. Schon jetzt brauchen wir von allen dafür Hartnäckigkeit, und das wird von der Mannschaft auch extrem gelebt. Nur so lässt sich die finanzielle Schere, die in den letzten zehn Jahren weit auseinandergegangen ist, mit unseren Mitteln verkleinern. Ein Beispiel: Wir haben zuletzt "Alt gegen Jung" gespielt, und ein 1998er-Jahrgang gehörte schon zu den Älteren. Da geht mir das Herz auf, und dem Verein natürlich auch. Denn das ist eine Zukunftsperspektive für den Verein und der steht über allem und allen. Bald stößt das türkische Mittelfeldtalent Burak Ince dazu: Jahrgang 2003, europäische Topklubs waren an ihm dran. Was bedeutet ein solcher Transfer für Arminia?Das ist ein Transfer für die Zukunft. Es zeigt, dass die Verantwortlichen perspektivisch denken, spannende junge Spieler mit viel Überzeugungsarbeit hierher lotsen. So ein Talent hat ja auch andere Möglichkeiten. Doch die Leute sehen, dass die Arminia in der Wahrnehmung ein guter nächster Schritt in der Karriereentwicklung ist. Wie sieht der kurzfristige Plan mit Ince im kommenden Frühjahr aus?Keiner sollte Burak direkt einen schweren Rucksack aufschnallen. Wir haben eine sehr hohe Meinung von ihm, er ist beweglich und technisch stark, ein toller Junge. Doch der Spieler muss erst mal die Trainings- und Spielintensität aufnehmen, in der völlig neuen Kultur ankommen. Die Zeit räumen wir ihm ein. Weil er ein solches Talent ist, kann das bei ihm schneller gehen als bei anderen, aber eine Gewissheit gibt es dafür nicht. Wir werden alle zusammen daran arbeiten, dass er seinen Plan, sich in Deutschland zu etablieren, umsetzen kann. Zuletzt fehlte in der Dreierkette etwas die Balance, beim 1:0-Sieg in Stuttgart stand wieder die bewährte Viererkette. Ist das Thema jetzt erst einmal beendet?In manchen Spielen ist ein massiveres, mit drei Spielern besetztes Abwehrzentrum die Lösung. In anderen die Viererkette mit tiefer stehenden Außenverteidigern. Wir tun gut daran, beides ausfüllen zu können und die Option zu haben, auch innerhalb eines Spiels anzupassen. So können wir auf die Situation in unserem Kader reagieren, aber auch auf den Gegner. Das werden wir als Arminia Bielefeld in der Bundesliga immer tun müssen, ohne dabei unsere eigenen Stärken zu vernachlässigen. Außerdem, das bestätigen auch Trainerkollegen, wird das Spiel immer flexibler: Bei vielen Gegnern treiben sich die Offensivspieler überall herum, interpretieren ihre Rolle völlig frei. Da müssen wir weg von starren Grundordnungen hin zu Prinzipien, die in bestimmten Räumen gelten. Mit wie vielen intensiven Läufen und Sprints kann ein Stürmer bei Ihnen einen vergebenen Hochkaräter aufwiegen?(lacht) Da darf man sich nicht an Zahlen festhalten. Alles, was wir zum Gegner und zum Tor hin machen, soll intensiv sein, um diese Momente zu schaffen. Und wer das kann, wird wahrscheinlicher spielen, als der, der das nicht ableisten kann. Denn wer einem Gegner zum Tor hin wehtun will, braucht diese Dynamik. Dafür benötigt es wiederum Frische, Intensität und enorme Fitness. Wir verlangen unseren Stürmern, wie allen anderen Spielern, da viel ab. Aber die Alternative wäre, dass wir ziemlich viele Verteidiger ausspielen müssten. Und bei elf Gegenspielern ist das nicht so leicht. Sie wissen, worauf wir hinauswollen. In der Bilanz stehen erst sieben Tore in elf Punktspielen. Wie lösen Sie das Sturmproblem?An den Großchancen in Stuttgart waren ja auch frische, eingewechselte Spieler beteiligt. Man kann also nicht sagen, dass die Jungs das Tor nur nicht treffen, weil sie zuvor so hart gegen den Ball gearbeitet haben. Wichtig ist, dass wir diese klaren Situationen vor dem gegnerischen Tor erst schaffen. Es kommen die Spiele, in denen die Chancen dann auch besser genutzt werden. Das ist wie bei einem Handwerker: Je länger er in seinem Job ist, desto unterbewusster und sicherer gehen ihm die Handgriffe von der Hand – er versteht sein Handwerk. Bei uns müssen Spieler, die ihr Können etwa in der 2. Bundesliga gezeigt haben, nun unter ganz anderem Gegner- und Zeitdruck ähnlich erfolgreich sein. Und das werden sie auch. Aber sie brauchen Zeit und Erfolgserlebnisse. Patrick Wimmer ist spektakulär gestartet. Spielt er in der nächsten Saison noch hier?Er hat ja noch einen langfristigen Vertrag. Aber auch da dürfen wir uns gegen nichts verwehren: Bei Bayern München mag es realistisch sein, als Trainer immer mit der gleichen Mannschaft arbeiten zu können. Aber je erfolgreicher ein kleinerer Verein ist, desto weniger Kontinuität ist im Kader, und positiv gedacht: Desto mehr Spannendes kannst du mit Transferentschädigungen dem Kader auch wieder zuführen. Am Ende entscheidet jeder Spieler selbst, wo der Weg für ihn hingeht: Der eine bleibt lieber noch länger hier, um sich zu entwickeln. Der andere nimmt vielleicht das dreifache Gehalt woanders. Und dann müssen wir neue Lösungen finden. Sprechen wir abschließend über das Coronavirus, über Rekordinfektionszahlen und düstere Prognosen. In Ihrer bayrischen Heimat schnellen die Zahlen rapide nach oben. Haben Sie Sorge vor dem zweiten Pandemiewinter?Ja, da sind Sorgenfalten. Ich frage mich, wie wohl jedes verantwortungsbewusste Mitglied unserer Gesellschaft auch: Was kommt auf uns zu? Dieses Hoffen und Freuen, mit einer richtig guten Impfquote alles abfedern und anders mit dem Virus umgehen zu können, das ist erst mal weg. Wir sehen ja an den Fallzahlen: Was wir bislang getan haben, reicht einfach nicht. Dafür zahlen wir nun leider alle die Rechnung. Ich möchte gerne jeden dazu ermuntern, sich impfen zu lassen, um der Gesellschaft wieder einen halbwegs normalen Alltag zu bescheren. Die Forderungen nach einer 2G-Regelung für den Freizeitbetrieb werden lauter, Fußballstadien inkludiert. Wie stehen Sie dazu?Alles, was einem an Informationen zugetragen wird und uns schlauer gemacht haben über das Virus, ist eindeutig: Nicht-Geimpfte haben die Intensivstationen übernommen. Geimpfte haben wenn, dann deutlich mildere Verläufe und stecken sich seltener an. Wenn durch eine 2G-Regel mehr Stabilität und Sicherheit beim Einzelnen gewährt werden kann, dann finde ich das gerechtfertigt. Die Spielabsagen in unteren Spielklassen häufen sich, jüngst machte der SV Sandhausen mit 18 Positiv-Tests Schlagzeilen. Das muss einen Trainer doch nervös machen...Natürlich macht einen das nervös, ich habe da auch Mitgefühl mit den Vereinen. Es geht innerhalb der Klubs immer auch um Existenzen und allen voran um die Gesundheit der Leute. Für uns bedeutet das: Wir müssen weiterhin die Hygiene- und Abstandsregeln einhalten. Es hört nicht auf, Corona ist nicht vorbei! Ich weiß nicht, ob das jedem im vergangenen Dreivierteljahr immer bewusst war. Aber jetzt muss uns das klar sein. Arminias Impfquote soll sehr gut sein, aber trotz vieler Überzeugungsgespräche nicht bei 100 Prozent liegen. Wie gehen Sie mit denen um, die das Vakzin weiterhin ablehnen?Es handelt sich um sehr wenige Leute. Aber weil wir uns vor der Saison für einen kompakten Kader entschieden haben, wäre schon ein Corona-Fall im Team für uns eine richtige Schwächung. Daher hören wir auch nicht auf, uns mit diesen Spielern auszutauschen, ihnen die Konsequenzen ihrer Haltung vor Augen zu führen und sie an die Verantwortung gegenüber der Mannschaft und ihrem Verein zu erinnern. Die Argumente, die dagegengehalten werden, akzeptiere ich ohne sie wirklich nachvollziehen zu können. Jeder darf und soll seine eigene Meinung dazu haben, das toleriere ich. Aber es fällt mir schwer, wenn ich an die Folgen für uns als Gruppe und Gesellschaft denke.

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