Düsseldorf (epd/dpa). Der sechste Jahresbericht der nordrhein-westfälischen Antisemitismusbeauftragten Sylvia Löhrmann zählt insgesamt 695 antisemitische Straftaten für das Jahr 2024. Im Vergleich zu 547 Fällen im Jahr 2023 stelle das „erneut eine signifikante Steigerung“ dar, erklärte die Landesregierung am Montag in Düsseldorf. Das geht aus dem Bericht der Landesbeauftragten gegen Antisemitismus hervor. Alle seien gefordert.
Bereits im Mai hatte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Nordrhein-Westfalen (RIAS) die Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle unterhalb der Strafbarkeit vermeldet: 944 Vorfälle im Jahr 2024 im Vergleich zu 664 Vorfällen im Jahr 2023. Das entspricht einer Zunahme um 276 Fälle oder 42 Prozent.
Löhrmann erklärte: „Das sind die Zahlen, wir reden von Fällen. Aber wir müssen uns im Grunde klarmachen, was das eben bedeutet für die Menschen. Das bedeutet im Extremfall Tod, es bedeutet Aggression, es bedeutet Hetze.“ Das Vertrauen der Betroffenen in Staat und Gesellschaft werde auf eine große Probe gestellt. Viele der Betroffenen seien deutsche Staatsbürger.
Retraumatisierung der dritten und vierten Generation
„Wohnhäuser von Jüdinnen und Juden werden markiert und beschmiert, in jüdischen Restaurants werden Fensterscheiben eingeschlagen, Veranstaltungen mit jüdischem Kontext werden abgesagt“, erklärte Löhrmann mit Blick auf das alltägliche jüdische Leben. Kinder und Erwachsene würden sich aus Angst nicht als jüdisch zu erkennen geben.
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Löhrmann verwies auf Äußerungen von Betroffenen im Jahresbericht. Es finde eine Retraumatisierung der dritten und vierten Generation statt. Großväter hätten aufgrund ihrer Erfahrungen in der NS-Zeit gesagt, man solle sich nicht, als Jude zu erkennen geben. Dass Jüdinnen und Juden, die in Deutschland aufgewachsen seien, das heute wieder sagten, zeige, wie notwendig Gegenmaßnahmen seien.
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus NRW hatte zudem gemeldet: Neben einem Fall von extremer Gewalt wurden 18 Angriffe, 22 Bedrohungen, 61 Sachbeschädigungen, 56 Massenzuschriften, 228 Versammlungen, fünf Diskriminierungen und 549 Fälle von verletzendem Verhalten registriert.
Antisemitismus werde offen propagiert
„Auf den Straßen, an Universitäten, im Kulturbereich wird Antisemitismus offen artikuliert und propagiert; in sozialen Netzwerken kennt Judenhass keine Grenzen“, betonte die Beauftragte für die Bekämpfung des Antisemitismus, für jüdisches Leben und Erinnerungskultur. Die Polizei müsse jüdische Institutionen rund um die Uhr schützen.
„Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Jede Bürgerin und jeder Bürger Nordrhein-Westfalens muss sich bewusst machen, dass Antisemitismus zu bekämpfen Arbeit an unserer Demokratie ist, um die Freiheit und die Vielfalt unserer Gesellschaft zu erhalten“, unterstrich Löhrmann.
Sie empfiehlt unter anderem, an den Hochschulen und Universitäten Antisemitismusbeauftragte zu berufen, die Anlaufstellen für Betroffene sein sowie Bildungs- und Sensibilisierungsangebote realisieren sollten. Generell brauche es auch mehr Medienkompetenzprojekte mit Fokus auf antisemitismuskritische Analyse sozialer Medien, Desinformation und Verschwörungserzählungen.
Löhrmann warnt eindringlich
Löhrmann betonte zudem, dass viele Formen von Antisemitismus existieren, mit denen man sich auseinandersetzen müsse. Dazu brauche es umfassende Maßnahmen – von Lehrerfortbildungen über Schülerfahrten zu Gedenkstätten bis hin zu Projekten zur Medienkompetenz für junge Menschen. „Das ist nicht wie eine Impfung, dann geht man da einmal durch und dann reicht das für die ganze Zeit“, sagte sie.
Mit Blick auf die Lage im Nahen Osten sagte Löhrmann: „Die Jüdinnen und Juden hier, die können nicht in Haftung genommen werden für die Entscheidungen eines anderen Staates. Und das passiert.“ Auch Kinder würden etwa in Schulen dazu befragt, was sie zur Politik des israelischen Ministerpräsidenten sagten – dabei sei ihr Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), erklärte Löhrmann.
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