Integrierte Familien statt Straftäter: Experte beklagt Abschiebepraxis in NRW

Bielefeld. Um das Thema Abschiebungen ist eine bundesweite Debatte entbrannt. Grund sind Fälle wie der islamistische Anschlag von Solingen – denn der Täter hätte Monate zuvor abgeschoben werden sollen. Oft treffe die Abschiebung nicht potenziell gefährliche Menschen, sondern integrierte Familien, klagt Sebastian Rose vom Abschiebungsreporting NRW. Er analysiert die Praxis im Bundesland schon lange. &bdquo;Wir beobachten, dass in den vergangenen Jahren mehr behördliche Strukturen aufgebaut wurden, die auf Abschiebungen ausgerichtet sind“, berichtet Rose. Mit dem Fall von Solingen sei dies, begleitet von einer enormen öffentlichen und politischen Diskussion, noch verstärkt worden. &bdquo;Auch andere Entscheidungen wie Erlasse, kurz nach dem Anschlag, haben enorme Folgen für Geflüchtete in Landesunterkünften. Teilweise sind das klare Einschränkungen der Grundrechte.“ So sollen die Zentralen Ausländerbehörden etwa dauerhaften Datenzugriff auf die Anwesenheitsdaten der Geflüchteten erhalten, erklärt Rose. &bdquo;So werden regelrechte Bewegungsraster von den Menschen erstellt.“ Auch sollen die Behörden einen Generalschlüssel erhalten. Lesen Sie auch: Neue Details: Warum es keinen zweiten Abschiebeversuch von Issa al H. aus OWL gab Grund für die getroffenen Maßnahmen war der Anschlag von Solingen im August, bei dem mehrere Menschen starben und verletzt wurden. Ein syrischer Flüchtling stach bei einem Stadtfest auf seine Opfer ein. Kurz nach der Tat bekannte sich die Terrororganisation &bdquo;Islamischer Staat“ zu dem Anschlag. Und es stellte sich heraus, dass der Mann, der zeitweise in einer Paderborner Flüchtlingsunterkunft lebte, ein Jahr zuvor eigentlich hätte abgeschoben werden sollen. Doch der Versuch scheiterte. Abschiebungen kein Mittel gegen Gewalt? &bdquo;In der aktuellen Diskussion nach Solingen und den Forderungen nach mehr Abschiebungen werden Menschen pauschalisiert“, sagt Rose. Schon jetzt beobachte der Experte, der vor wenigen Tagen in Bielefeld über sein Buch &bdquo;Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen. Ausgrenzung, Entrechtung. Widerstände“ referierte, dass im bevölkerungsreichsten Bundesland nicht unbedingt als gefährlich deklarierte Personen abgeschoben werden. Abschiebungen sieht er weder als geeignete noch ethisch tragbare Mittel zur Verhinderung von strafbarem Verhalten oder von Gewalt. &bdquo;Nur ein winziger Bruchteil der Abgeschobenen sind beispielsweise in der politisch fragwürdigen und nicht klar definierten Kategorie als Gefährder eingestuft“, berichtet Rose. Aktuelle Zahlen geben ihm recht. So wurden laut Rose alleine im vergangenen Jahr knapp 3.700 Menschen aus NRW abgeschoben. &bdquo;Tendenz steigend“, so der Experte. Zum Vergleich: Seit 2017 wurden aus NRW insgesamt 116 &bdquo;sicherheitsrelevante Personen“ abgeschoben. Dazu zählen zum Beispiel Gefährder, also potenzielle Terroristen. Fünf weitere sind laut NRW-Landesregierung freiwillig ausgereist. Experte: Nur jeder vierte Abgeschobene vorbestraft Auch Straftäter träfe es nicht immer, beobachten die Experten. &bdquo;Wir schätzen, dass nur jeder vierte Abgeschobene bundesweit auch tatsächlich einen Bezug zu Straftaten hat, wobei unklar bleibt, welche Straftaten überhaupt gemeint sind. Beleidigung? Meineid? Drogenbesitz? Mord? Auch ist unklar, ob es sich um laufende beziehungsweise eingestellte Ermittlungsverfahren oder um Verurteilungen vor Gericht handelt.“ Lesen Sie auch: Lürbke: &bdquo;Es ist in NRW viel zu leicht, sich einer Abschiebung zu entziehen“ Viel zu oft handele es sich bei den Personen, die in ihr Herkunftsland zurückgebracht werden, um Familien. &bdquo;18 Prozent dieser Menschen sind beispielsweise minderjährig und werden in der Regel mit ihren Eltern abgeschoben.“ Zudem beobachtet Rose eine Entwicklung, die ihn beunruhigt: &bdquo;Teilweise werden laufende Abschiebungen in NRW gerichtlich gestoppt - die Behörden setzen sich jedoch darüber hinweg und ziehen die Maßnahmen trotzdem durch.“ Ein Beispiel ereignete sich erst im vergangenen Jahr: Der Kreis Gütersloh wollte einen Mann abschieben, was ein Gericht eigentlich stoppte. Dennoch wurde die Abschiebung erst am Flughafen verhindert. Abschiebungen als politisches Mittel Rose sieht außerdem ganz andere Probleme. &bdquo;Bei vielen Menschen, die abgeschoben werden sollen oder wurden, handelt es sich um Menschen, die schon im Grunde Teil der Gesellschaft waren, sie lebten zum Beispiel jahrelang hier und haben einen Job.“ In Deutschland bedeute Arbeit jedoch nicht gleich Bleiberecht. &bdquo;Es ist zudem erschreckend, wie viele Personen in Mangelberufen wie der Pflege als ausreisepflichtig gelten.“ Die meisten Flüchtlinge stammen laut Rose aus Syrien, Afghanistan und der Türkei. Abschiebungen nach Syrien finden nicht statt. Zuletzt gab es eine größere Abschiebung von Straftätern nach Afghanistan, kurz vor den Wahlen in Ostdeutschland. Auch NRW hat sich daran beteiligt. &bdquo;Man kann aufgrund des Zeitraums davon ausgehen, dass die Abschiebungen politisiert wurden“, meint Rose. Prävention wichtiger als Abschiebe-Debatte Ein Umstand, den er auch nach dem Anschlag von Solingen beobachtet habe. &bdquo;Alle sprechen über eine gescheiterte Abschiebung des Mannes nach Bulgarien, aber niemand darüber, dass der Mann dann dort ein solches Attentat hätte verüben können.“ Geht es um mehr Sicherheit, sieht Rose aktuell Präventionsarbeit als zielführende Maßnahme - die Menschen früh erreichen, andere Geflüchtete frühzeitig sensibilisieren, Behörden und Ansprechpartner vor Ort mehr involvieren. &bdquo;Es gibt aktuell staatliche Maßnahmen, die Geflüchtete an den Rand der Existenz treiben können“, sagt Rose. Etwa die Streichung von Geldern für bestimmte Gruppen. Rose fragt: &bdquo;Sind das nicht viel größere Risiken, dass jemand Hass auf Deutschland entwickelt und sich radikalisieren könnte?“

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