Opioid-Welle steigt: Droht in Deutschland eine Krise wie in den USA?

Gütersloh/Bielefeld. Der Missbrauch starker Schmerzmittel hat Hunderttausende Menschen in den USA in die Sucht und den Tod getrieben. Inzwischen sterben jährlich mehr als 100.000 Menschen an einer Überdosis. Die verheerende Drogenkrise in den USA zeigt, wie gefährlich Opioide wie Fentanyl sein können. Auch in Deutschland steigt die Zahl der Suchtkranken und Todesopfer. Deutschland zählt sogar zu den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch, der zwischenzeitlich sogar höher lag als in den USA. Experten rechnen zwar nicht mit vergleichbaren Entwicklungen, sehen aber Gefahren durch die oftmals falsche Verschreibungspraxis in Hausarztpraxen. Der Gütersloher Suchtmediziner Ulrich Kemper und der Bielefelder Palliativmediziner Stephan Probst erklären, worauf Schmerzpatienten achten sollten. Was sind Opioide? Opioide ist nach Angaben der Bundesärztekammer der Sammelbegriff für Substanzen, die morphinartige Eigenschaften aufweisen und die Schmerzübertragung hemmen. Sie gelten als die stärksten verfügbaren Schmerzmittel und werden in schwach wirksam, wie Tramadol, Tilidin oder Codein, und in stark wirksam, wie Morphin, Fentanyl oder Oxycodon, unterschieden. Wann werden Opioide eingesetzt? Opioide sind nach Angaben der Bundesärztekammer bei Krebs- und Palliativpatienten wichtiger Bestandteil der Schmerzbehandlung. &bdquo;Krebs kann zu unerträglichen Schmerzen führen, und diese Schmerzen sprechen häufig nicht gut auf leicht zugängliche Schmerzmittel wie Ibuprofen an. In solchen Fällen helfen Opioide deutlich besser und schädigen zudem nicht die Nieren und die Leber“, erklärt Stephan Probst, leitender Oberarzt in der Klinik für Hämatologie, Onkologie, Palliativmedizin des Klinikums Bielefeld. Infolge der Opioidkrise in den USA und dem zunehmenden Missbrauch von Fentanyl in der Drogenszene beobachtet Probst jedoch immer mehr Patienten, die Opioide aus Angst vor einer Abhängigkeit ablehnen. &bdquo;Diese Sorge ist bei einer gut begleiteten Therapie und korrekter Dosierung unbegründet, weil Opioide bei starken Schmerzen ausschließlich die Schmerzrezeptoren ansprechen.“ Bei anderen lang anhaltenden Schmerzen sind Opioide nach Angaben der Bundesärztekammer nicht grundsätzlich wirksamer als andere Schmerzbehandlungen, können aber helfen, wenn andere Mittel nicht mehr ausreichend wirken oder aus medizinischen Gründen nicht angewendet werden dürfen. &bdquo;Aber auch hier gilt, dass die Opioide nur dann sicher sind, wenn Patienten intensiv begleitet werden. Eine sichere Therapie bedarf eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient, doch dafür bleibt im Gesundheitssystem immer weniger Zeit“, sagt Probst. Das gelte insbesondere für die Nutzung hochpotenter Opioide wie Fentanyl, die sehr schnell wirken. &bdquo;Mit diesem Mittel können Durchbruchschmerzen behandelt werden, die bei Tumorpatienten plötzlich auftreten und als Vernichtungsschmerz beschrieben werden.“ Lesen Sie auch: Illegaler Medikamentenhandel bei Facebook: Apotheker aus OWL erringt ersten Erfolg Grundsätzlich rät Probst Schmerzpatienten dazu, die Verordnung von Opioiden immer kritisch zu hinterfragen, aber nie pauschal abzulehnen. &bdquo;Für bestimmte Patienten sind das die passenden Mittel. Wichtig ist, dass Betroffene darauf achten, dass ihr Arzt zuhört, Fragen nach eingetretener Linderung und beobachteten Nebenwirkungen stellt und zu einem Schmerztagebuch rät, damit richtig und sicher behandelt werden kann.“ Die Verordnung von Opioiden, mit dem Hinweis vom Arzt, sich im nächsten Monat das nächste Rezept abzuholen, ist laut Probst kein verantwortungsvoller Umgang mit den Schmerzmitteln. Wer darf Opioide verordnen? Jeder Arzt darf nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums Opioide verordnen. Schwache Opioide wie Tilidin sind verschreibungspflichtig, starke Opioide wie Fentanyl unterliegen dem Betäubungsmittelgesetz, weshalb Ärzte sogenannte Betäubungsmittel-Rezepte nutzen müssen. Die dreiteiligen Rezeptvordrucke müssen von den Ärzten bei der Bundesopiumstelle beantragt werden. Die Rezepte sind nummeriert und werden den Ärzten zugeordnet. &bdquo;Ein Teil des Rezepts bleibt in der Praxis, der zweite Durchschlag in der Apotheke und der dritte Durchschlag bei der Krankenkasse, sodass jederzeit die Möglichkeit einer Prüfung besteht“, erklärt Ulrich Kemper, ehemaliger Chefarzt der Klinik für Suchtmedizin des LWL-Klinikums Gütersloh, der nach seinem Ruhestand weiter in der Suchtambulanz tätig ist. &bdquo;Diese Kontrollmechanismen sind eine wichtige Präventionsmaßnahme gegen den übermäßigen Gebrauch starker Opioide.“ Wie bewerten Experten die Verschreibungspraxis von Opioiden? Eine Untersuchung des Bremer Gesundheitswissenschaftlers Gerd Glaeske aus dem Jahr 2022 zeigt, dass die Verschreibungen von Opioiden in Deutschland von 129 Millionen Tagesdosen im Jahr 1996 auf 446 Millionen Tagesdosen im Jahr 2020 angestiegen sind. Das entspricht einer Zunahme um das 2,5-Fache. Der Opioidreport des Arzneimittelexperten zeigt zudem, dass die Schmerzmittel immer häufiger Patienten verordnet werden, die an Rückenschmerzen, Arthrose, Osteoporose oder Polyneuropathie leiden. 81 Prozent der Frauen und 78 Prozent der Männer, die starke Opioide verschrieben bekamen, litten nicht an Krebs. In 90 Prozent der Fälle wurden die Mittel von Hausärzten verschrieben. Eine Entwicklung, die Suchtmediziner Kemper beunruhigt. &bdquo;Weil es in Deutschland an Schmerzmedizinern mangelt, werden die meisten Schmerzpatienten von ihren Hausärzten versorgt, die jedoch oft zu leichtfertig Opioide verschreiben.“ Das machten sie nicht aus böser Absicht, sondern um ihren Patienten zu helfen. &bdquo;So erhalten Schmerzpatienten dann Mittel, die sie gar nicht benötigen oder in falscher Dosierung, und daraus kann eine Abhängigkeit entstehen, weil Opioide ein hohes Suchtpotenzial haben.“ Schmerzmediziner verschrieben Opioide zurückhaltender und immer mit genauer Dosierangabe. &bdquo;Mittel dieser Art müssen zudem immer abdosiert werden.“ Auch Fehlanreize im Vergütungssystem sind laut Kemper für die gefährliche Verschreibungspraxis mitverantwortlich. &bdquo;Physiotherapie hilft in vielen Fällen gegen Rückenschmerzen und andere Probleme, auch noch im hohen Alter, doch die können Ärzte nicht allen Betroffenen zukommen lassen, weil sie ein Budget für die Verordnungen haben. Schmerzmittel können hingegen immer verordnet werden.“ Besonders besorgt zeigt sich Kemper wegen zunehmender Verordnungen von Fentanylpflastern, weil das synthetische Opioid 100 Mal stärker als Morphin wirkt. &bdquo;Verordnet werden sollten diese Pflaster nur Schmerzpatienten, die Schluckbeschwerden haben, doch die allermeisten Patienten haben diese Probleme nicht.“ Das bestätigt auch die Studie von Glaeske. Zudem haben 85 Prozent der Patienten, die mit Fentanylpflastern behandelt werden, zuvor keine anderen Mittel oder eine geringere Dosierung erhalten. &bdquo;Pflaster sind einfach anzuwenden und wirken harmlos, das sind sie aber nicht. Doch vor allem bei hochbetagten Menschen habe ich oft das Gefühl, dass es Ärzten egal ist, ob sie abhängig werden“, moniert Kemper. Lesen Sie auch: So schätzt das Landeskriminalamt NRW die &bdquo;Zombie-Droge“ Fentanyl ein Welchen Einfluss haben Opioide auf die steigende Zahl von Suchtpatienten und Drogentoten in Deutschland? Im Vergleich der Suchtmittel hätten Opioide das größte Suchtpotenzial, so Kemper. &bdquo;Das kann jeden treffen, weil auch Menschen in Gefahr sind, die kein erhöhtes Risiko für Suchterkrankungen haben.“ Er beobachtet in der Klinik für Suchtmedizin des LWL-Klinikums Gütersloh eine steigende Zahl an Patienten, die abhängig von Schmerzmitteln sind. Zudem steigt nach Angaben des Bundeskriminalamtes die Zahl der Drogentoten im Zusammenhang mit Opioiden. Insgesamt hat die Behörde 2023 2.227 drogenbedingte Todesfälle in Deutschland registriert und damit doppelt so viele wie vor zehn Jahren und zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. &bdquo;Diese schreckliche Entwicklung hängt auch mit der Opium-Produktion in Afghanistan zusammen, die seit der Machtübernahme der Taliban massiv eingebrochen ist und deshalb weltweit weniger Heroin zur Verfügung steht“, erklärt Kemper. &bdquo;Abhängige weichen als Ersatz zunehmend auf Mittel wie Fentanyl aus.“ Dadurch steige jedoch die Gefahr von Überdosierungen, weil synthetische Opioide teilweise den 50- bis 100-fachen Wirkungsgrad von Heroin erreichen. Für den Drogenmissbrauch werden laut Kemper auch Fentanylpflaster genutzt, die Betroffene entweder selber vom Arzt oder von Angehörigen erhalten. &bdquo;Die Pflaster werden ausgelutscht oder ausgekocht, um an das Mittel zu gelangen. Das funktioniert leider auch bei bereits gebrauchten Pflastern, weil etwa 50 Prozent des Mittels übrig bleiben.“ Lesen Sie auch: So viele Drogentote wie noch nie in NRW – Crack auf dem Vormarsch Droht in Deutschland eine vergleichbare Krise wie in den USA? Sowohl die Studie von Arzneimittelexperte Glaeske sowie die Experten Kemper und Probst kommen zu dem Schluss, dass in Deutschland keine vergleichbare Krise wie in den USA droht. &bdquo;Das liegt vor allem an den strengeren Kontrollen der Verordnungen starker Opioide“, sagt Kemper. Zudem zeigt die Studie, dass schwache Opioide wie Tilidin deutlich häufiger verordnet werden als starke Opioide wie Fentanyl. Der Anteil der Versicherten, die starke Opioide erhält, lag 2020 nicht mal bei einem Prozent. Um Menschen vor einer Abhängigkeit zu schützen, fordern die Mediziner jedoch Anpassungen in der fragwürdigen Verschreibungspraxis, vor allem bei Hausärzten. &bdquo;Hier sollten Ärzte das Risiko von stark wirkenden Schmerzmitteln gegen den Nutzen und gegen vorhandene Alternativen immer abwägen“, sagt Kemper. Sorgen bereitet den Ärzten zudem die Entwicklung in der Drogenszene. &bdquo;Fentanyl wird inzwischen sogar Cannabis beigemischt, das ist eine brandgefährliche Entwicklung“, mahnt Probst. Die Experten Kemper und Probst empfehlen die Netflix-Serie &bdquo;Painkiller“ aus dem Jahr 2023, die auch in Deutschland verfügbar ist. Die Serie widmet sich dem Hauptverantwortlichen des Beginns der Opioidkrise in den USA, dem Hersteller des Opioids Oxycontin, Purdue Pharma, und der dahinterstehenden Familie Sackler. Zudem zeigt die Serie auch, dass viele Opfer der Krise durch das Fehlverhalten ihrer Ärzte abhängig wurden.

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