200.000 Verfahren auf Halde: Kann NRW Straftäter schnell genug verurteilen?

Düsseldorf. Als sich der NRW-Landtag mit der tödlichen Gewalttat in Bad Oeynhausen befasste, da sagte CDU-Politiker Gregor Golland mit Blick auf den 18-jährigen Tatverdächtigen diesen Satz: Trotz zahlreicher Delikte, die der Mann begangen habe, sei es bis heute &bdquo;zu keiner einzigen Verurteilung“ gekommen. &bdquo;Wie kann das sein? Das versteht kein Bürger mehr“, meinte der Innenexperte der CDU-Fraktion und forderte &bdquo;Konsequenzen“. Die &bdquo;anständigen Menschen“ erwarteten zu Recht, dass kriminelle Täter von der Justiz &bdquo;zeitnah“ und &bdquo;spürbar“ bestraft würden. Ist das in NRW noch gegeben? Lesen Sie auch: Alle Informationen zur tödlichen Attacke in Bad Oeynhausen Aktuelle Zahlen zeichnen zunächst ein düsteres Bild. Die Lage sei für die Staatsanwaltschaft &bdquo;aktuell wenig erfreulich“, sagt Gerd Hamme vom Bund der Richter und Staatsanwälte NRW im Gespräch mit dieser Redaktion. &bdquo;Jeder Einzelne arbeitet derzeit für 1,4 Staatsanwälte – also 40 Prozent mehr.“ Die Folge: &bdquo;Verfahren bleiben momentan in großem Umfang liegen.“ Konkret: Rund 200.000 Verfahren befinden sich in der NRW-Justiz aktuell &bdquo;auf Halde“, so Hamme. Das ist ein Anstieg um mehr als 30 Prozent in zwei Jahren. Es sei ein &bdquo;unhaltbarer Zustand“, wenn Unrecht nicht oder zu spät verfolgt und bestraft werde. Konkret zeige sich das zum Beispiel bei Angriffen auf Politikerinnen und Politiker im Rahmen des Wahlkampfes zur Europawahl. &bdquo;Das sind Angriffe auf unsere Demokratie. Die müssen schnell bestraft werden; aber das geht einfach nicht, weil das Personal nicht da ist. Solche Verfahren können wir nicht ohne Weiteres vorziehen“, sagt Hamme. Lesen Sie auch: Unerledigte Verfahren in NRW: Justizminister will offene Stellen besetzen Die AfD-Fraktion in NRW spricht angesichts von &bdquo;400 fehlenden Staatsanwälten“ von einer sich &bdquo;ausbreitenden Rechtssicherheitslücke“. Das erhöhe die Gefahr von Fehlurteilen, führe zu einer schlechteren Qualität und einer längeren Dauer von Strafurteilen. &bdquo;Das kann das Vertrauen in die öffentlichen Behörden schwächen“, meint der AfD-Abgeordnete Hartmut Beucker. Im Bezirk Westfalen sind rund 89.000 Verfahren noch offen Ob das tatsächlich stimmt, zeigt ein Blick auf Zahlen des Bezirks Westfalen, die von der Generalstaatsanwaltschaft Hamm ausgewertet werden. Dort waren die Behörden im Jahr 2023 mit rund 577.000 Verfahren gegen namentlich bekannte Tatverdächtige befasst – ein Zuwachs von vier Prozent. Nicht erledigt waren davon bis Jahresende rund 96.000 Verfahren. Bis Ende März sank die Zahl der noch offenen Verfahren auf rund 89.000. Und wie lange dauert die Bearbeitung? Verfahren, die im vergangenen Jahr eingegangen sind, waren im Durchschnitt nach &bdquo;etwas mehr als eineinhalb Monaten erledigt“, teilt die Generalstaatsanwaltschaft Hamm auf Anfrage mit. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer sei somit nur um rund sechs Tage angestiegen, obwohl die Mitarbeiter rund 26.000 Verfahren mehr zu erledigen hatten als 2022. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Erhebungen von Anklagen. Wenn die Akten bei der Staatsanwaltschaft eingehen, dauert es durchschnittlich 2,9 Monate, bis sie dem Gericht vorgelegt werden. Diese Zeitspanne sei im vergangenen Jahr um rund 12 Tage angestiegen. Die Auswertung zeigt aber auch: Vor fünf Jahren waren die Verfahren durchschnittlich 0,8 Monate schneller erledigt – die durchschnittliche Dauer lag da noch bei 2,1 Monaten. So positioniert sich NRW-Justizminister Limbach &bdquo;Die Justiz in NRW funktioniert gut“, meint Landesjustizminister Benjamin Limbach (Grüne). Der Rechtsstaat sei &bdquo;wehrhaft“. &bdquo;Den lassen wir uns von rechts außen nicht kaputtreden“, sagt Limbach. Zum 1. April seien rund 60 Planstellen bei der Staatsanwaltschaft frei gewesen – das entspreche einer Besetzungsquote von 96 Prozent. Gleichwohl räumt der Minister Handlungsbedarf ein. Die Arbeitsbelastung der rund 43.000 Beschäftigten sei in den vergangenen Jahren gestiegen. &bdquo;Keine Frage: Wir müssen reagieren“, so Limbach. Im Haushalt 2024 habe das Land 40 neue Stellen für die Staatsanwaltschaft geschaffen. Kurzfristig helfen soll eine ungewöhnliche Maßnahme. So sollen insgesamt 100 Stellen aus dem Bereich der Richterinnen und Richter auf die Staatsanwaltschaft übertragen werden. Das heißt: Einige Richterinnen und Richter arbeiten in der nächsten Zeit im Bereich der Staatsanwaltschaft, um dort auszuhelfen. In OWL werden zum Beispiel drei Richterinnen und Richter an die Behörden abgeordnet, die zuvor bei Gerichten in der Region tätig waren. So reagiert die Opposition auf den Vorschlag Limbachs Während CDU-Politikerin Angela Erwin von einem &bdquo;starken Zeichen der Solidarität“ spricht, sieht FDP-Politiker Werner Pfeil darin einen &bdquo;unausgegorenen Vorschlag“ Limbachs, da er neue Personallücken an anderer Stelle aufreiße. Laut Pfeil scheiden in den nächsten sechs Jahren rund 5.000 Beschäftigte der NRW-Justiz &bdquo;planmäßig“ aus. Es sei wichtig, die Wertschätzung in allen Bereichen der Justiz zu steigern – also auch für Wachtmeister, Gerichtsvollzieher, Mitarbeitende der Gerichte, Amtsanwälte und Rechtspfleger. Pfeil betont aber, dass die Lage auch in anderen Bundesländern angespannt sei. Gerd Hamme vom Richterbund sieht einen Erklärungsansatz für den Mangel an Staatsanwälten darin, dass gute Absolventen und Rechtsreferendare heute oftmals in &bdquo;mittelgroßen“ Anwaltskanzleien mit dem Einstiegsgehalt mehr verdienen würden als Staatsanwälte oder Richter am Berufsende. Es sei also unausweichlich, die Besoldung zu erhöhen. Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm will derweil auch Positives verkünden. Es sei gelungen, im vergangenen Jahr 50 neue Staatsanwältinnen und Staatsanwälte einzustellen – und in diesem Jahr seien bereits 26 Zusagen erteilt worden. &bdquo;Ich glaube, unsere Justiz funktioniert noch; aber in einer Phase, in der sich unsere Demokratie in einer gefährlichen Situation befindet, ist es ganz wichtig, dass wir unseren Rechtsstaat stärken“, sagt Hamme.

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