„Die evangelische Kirche wurde in ihre Einzelteile zerlegt“

Münster. Als die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und Präses der westfälischen Landeskirche, Annette Kurschus, vor zwei Monaten ihren Rückzug ankündigt, weil ihr vorgeworfen wird sexuell übergriffiges Verhalten eines ehemaligen Kirchenmitarbeiters vertuscht zu haben, spricht Kirchenrechtler Thomas Schüller von einem mustergültigen Fall für den Umgang mit Missbrauch bei den Protestanten. Nach der Vorstellung der ersten bundesweiten Studie zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland zeigt sich, dass er richtig lag. &bdquo;Das Ausmaß ist ähnlich hoch wie in der katholischen Kirche.“ Recht behält Schüller auch in der Ankündigung, dass die evangelische Kirche in Deutschland (EKD) am 25. Januar mit der Vorstellung der Studienergebnisse des Forschungsverbundes ihr Waterloo erleben wird. &bdquo;Die EKD steht nackt da. Das Selbstverständnis der besseren Kirche, die demokratischer, menschlicher, partizipativer und liberaler ist, wurde in den Grundfesten erschüttert.“ In der evangelischen und der katholischen Kirche herrschten ähnliche Mechanismen und Strukturen, die Missbrauch ermöglichen und vertuschen. &bdquo;Trotz aller Bekundungen steht aber auch heute noch bei Katholiken und Protestanten der Schutz der Institution höher, als der Schutz von Opfern.“ Damit sei die EKD in ihre Einzelteile zerlegt worden, sagt Schüller, der an der Universität Münster lehrt und forscht. >>> Lesen Sie auch: &bdquo;Nur die Spitze des Eisbergs“: Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche >>> Lesen Sie auch den Kommentar: Missbrauch in der evangelischen Kirche: Narrativ der Einzelfälle ist zerstört Auch die evangelische Kirche ist nach Angaben Schüllers eine sündige Kirche. &bdquo;Weil sie sich an so vielen Menschen vergangenen hat, in dem sie sexualisierte Gewalt ermöglicht und vertuscht und mit der nicht gewollten Aufarbeitung ein zweites Mal missbraucht.“ Trotz des vernichtenden Urteils, zu dem die Studie kommt, scheinen das laut Schüller aber noch immer nicht alle in der EKD verstanden zu haben. Das zeige beispielhaft der Auftritt der EKD-Ratsvorsitzenden Kirsten Fehrs vor der Vorstellung der Studienergebnisse. &bdquo;Sie sprach von Erschütterung und der Übernahme von Verantwortung und nutzte lediglich dieselben billigen und plumpen theologischen Floskeln, die auch schon ihre Vorgängerin Annette Kurschus und so viele vor ihr genutzt haben, um von diesem kompletten Organversagen abzulenken.“ Statt demütig die Kritik entgegen zu nehmen, sei sie patzig in die Offensive gegangen. &bdquo;Unerträglich für die Betroffenen.“ Opfer erhalten von den evangelischen Kirchen im Schnitt 15.000 Euro Kritik übt Schüller auch an den geringen Anerkennungsleistungen an Betroffene, die die 20 evangelischen Landeskirchen zahlen – im Durchschnitt etwa 15.000 Euro. Die Höhe sei jedoch vom Tatort abhängig, da die Landeskirchen die Zahlungen unterschiedlich handhaben. Das zeige, wie hartherzig diese Kirche sei, sagt Schüller. &bdquo;Mit dieser Armenspeisung muss Schluss sein. Nötig sind 100.000 Euro pro Betroffenem, denn sie leiden oft ein Leben lang, wodurch sie auch massive monetäre Nachteile haben.“ Schüller rechnet fest damit, dass die Studie die Erosion der Kirchen weiter beschleunigen wird. Keine großen Hoffnungen verbindet er hingegen mit der angekündigten Aufarbeitung der Gewalt in EKD und Diakonie. &bdquo;Die Ratsvorsitzende Fehrs muss jetzt um ihr Überleben im Amt kämpfen und damit werden noch viele weitere ihrer Kollegen beschäftigt sein, denn jetzt steht auch im Fokus, wer was wann gewusst haben könnte.“ Für eine echte Aufarbeitung ist laut Schüller ein Kulturwandel in EKD und Diakonie nötig. &bdquo;Das Thema muss in jeder einzelnen Gemeinde in der gesamten Fläche aufgearbeitet werden.“ Zudem müssen die Strukturen entsprechend eines Weges der Umkehr umgebaut werden. &bdquo;Das gilt für beide Kirchen und dafür braucht es strenge und einheitliche Vorgaben vom Staat.“

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