Herford. Dunkler Anzug, dazu trägt Murat D. eine Gebetskappe auf dem Kopf. Er streckt den Zeigefinger nach oben – das Zeichen der Sympathiesanten der Terrororganisation „Islamischer Staat". Das Video, auf dem der junge Mann aus Herford im Jahr 2011 bei einer Veranstaltung in Exter zu sehen ist, zeigt ihn mit dem später wegen Betrugs verurteilten Kölner Hassprediger Imbrahim Abou Nagie und einem Mann aus Tschetschenien, den die Sicherheitsbehörden als islamistischen Gefährder einstufen. Zum Umfeld dieses M annes gehörte der mutmaßliche Attentäter Tarik S. aus Bielefeld. Der Salafist soll einen Anschlag auf pro-israelische Kundgebungen geplant haben.
Daneben sind auf den Aufnahmen eine Reihe von späteren Herforder IS-Terroristen zu sehen. Bis zu acht junge Männer, so Schätzungen der Ermittlungsbehörden, haben sich von Herford aus ins syrische Kriegsgebiet abgesetzt, um dort für die Terrororganisation zu morden – in dem festen Glauben, bei ihrem Tod im Kampf ins Paradies zu kommen.
Nach „NW"-Informationen gehen die Sicherheitsbehörden mittlerweile davon aus, dass alle diese Herforder Islamisten – mit einer weiteren Ausnahme – in den vergangenen Jahren getötet wurden.
Radikalisierung eines Herforders - alle Fakten im Überblick
- Murat D. wuchs ohne Vater auf und auch der Bruder stirbt bei einem Verkehrsunfall.
- In einem Wohnprojekt kommt er mit der Herforder Islamisten-Szene in Kontakt.
- Gemeinsam mit einem deutschen Freund konvertiert er zum Islam. Bei Diskussionen zu Glaubensfragen akzeptiert er keine Widersprüche.
- Reist 2013 mit seiner türkischen Staatsbürgerschaft nach Syrien aus. Beim IS wird er Abu Davud Al Almani genannt.
- Heiratet über Skype eine Kölnerin, die für ihn ihren Ehemann verlässt und mit ihrem Sohn in die Türkei zieht, wo Murat D. zu dem Zeitpunkt lebt.
- Nach Einschätzungen der deutschen Sicherheitsbehörden wurde Murat D. bei Kämpfen Ende 2016 getötet. Eine Bestätigung seines Todes gibt es nicht.
Radikalisierung durch die Gewissheit, man sei als Moslem besser
Doch wie kam es zu der Radikalisierung? Ganz offensichtlich geben die Terroristen und ihre Unterstützer den oft abhängten jungen Leuten das Gefühl, besonders zu sein. Für viele bedeutet das wiederum, dass sie zum ersten Mal Halt und Anerkennung erfahren.
Zentral für seine islamistische Radikalisierung sei die Gewissheit gewesen, formulierte es ein Aussteiger aus der Szene 2019 im Deutschlandfunk, dass Muslime höherwertig als Andersgläubige seien. Der zweite wichtige Punkt in diesem Weltbild: Muslime seien immer Opfer von Gewalt und Diskriminierung.
„Da waren dann die Botschaften attraktiv, dass man Teil einer großen Sache ist, eine göttliche Mission. Du bist nicht Teil der Gesellschaft. Diese aggressive Grundeinstellung, dass man selbst als Moslem mehr wert ist. Und wenn dann so ein minderwertiger deutscher Ungläubiger etwas sagt, das einen das verletzt und man dann Gewalt anwendet", formulierte es der junge Aussteiger gegenüber dem Sender.
Das reale Leben des jungen Murat D. aus Herford wirkt wie die Blaupause für die Schilderungen des Aussteigers. Murat D.s Vater verstirbt, als er noch klein ist. Die Mutter muss sich allein um die Familie kümmern, das Geld ist knapp in dem Wohnblock am Herforder Westring, berichten später Weggefährten. Fast schein es so, als können der Jungen den Verlust wegstecken. „Er war trotzdem immer gut drauf", erinnert sich ein früherer Bekannter.
Schicksalsschläge und Drogen lassen Murat D. auf die schiefe Bahn geraten

Nach dem Tod des Vaters trifft die Familie ein zweiter Schicksalsschlag: Murat D.s Bruder wird bei einem Unfall in den 1990er Jahren getötet. Das habe Murat aus der Bahn geworfen, berichten Bekannte über ihn. Das gilt besonders für die Schullaufbahn. Die verläuft, wie bei bei vielen junge Männer mit Migrationshintergrund, alles andere als geordnet. „Wenn ich mich recht erinnere, ist er damals – 1999 – ohne Abschluss abgegangen", berichtet ein Bekannter.
Um diese Zeit herum soll Murat D. bereits Drogen genommen haben. „Dass er kiffte, war bekannt, ob er auch andere Drogen genommen hat, kann ich nicht sagen", erzählt ein anderer Zeuge, der aus Furcht vor den gewaltbereiten Salafisten ebenfalls anonym bleiben will. Ohne Schulabschluss kam D. in einer Ausbildungsmaßnahme unter – und scheiterte erneut. „Es war nicht so, dass er zu uns unfreundlich war. Lernen wollte er aber nicht", berichtet ein Bekannter.
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Ohne Abschluss und ohne Ausbildung ist der Weg des Heranwachsenden vorbestimmt. Hilfsangebote perlen an ihm ab. Auch ein Wohnprojekt in dem er mit einem weiteren späteren IS-Terroristen Unterstützung finden soll, bleibt ohne Einfluss. Murat D. ist erwerbslos und auf Hartz IV angewiesen.
Während der Unterbringung in dem Wohnprojekt kommt es offenbar zu ersten Kontakten mit der Herforder Islamisten-Szene. Bei den Drogenhändlern habe es sich mutmaßlich um Tschetschenen gehandelt, vermutet ein Bekannter, der D. von der Dieselstraße her kennt.
Zumindest im privaten Bereich scheint zunächst alle gut für Murat D. zu laufen. Er wird Vater. Doch auch der Traum von der heilen Familie zerbricht. Seine Ehefrau entscheidet sich, ihn zu verlassen, erzählen Freunde.
Die fehlende Anerkennung bekommt Murat D. in der Islamisten-Szene

D. steigert sich danach zusammen mit seinem deutschen Freund, der mit ihm in den Wohnprojekt untergebracht war und zum Islam konvertiert ist, immer mehr in die Religion hinein und habe mit seinen radikalen Ansichten sogar muslimische Freunde schockiert.
Doch in den Kreisen der Islamisten findet er offenbar das, was er bis dato nie hatte: Erfolg und Anerkennung. Anderen Bekannten will er „ein Buch zum Lesen" (den Koran?, Anm. d. Red.) mitbringen. Aufnahmen zeigen ihm beim Verteilen von Gratis-Koranen mit zwei weiteren Islamisten am Herforder Linnenbauerplatz.
Offenbar Teil des Weges in die Intoleranz: Schließlich betont er, dass er Widerspruch in Glaubensfragen – auch mit ehemaligen Freunden – nicht duldet und auch bereit ist, dafür zu töten. „Das hat er so gesagt, als sei es ein Scherz, doch jetzt wissen wir, das er es ernst meinte", sagt ein Bekannter.
Als graue Eminenz der Herforder Islamistenszene – und damit auch als möglicher Strippenzieher - gilt nach wie vor ein Kriegsflüchtling aus Tschetschenien. Der 2001 nach Deutschland geflohenen soll, so die Einschätzung der Sicherheitsbehörden, entsprechende Verbindungen genutzt haben, um die Ausreise der Herforder Islamisten aus Deutschland zu ermöglichen.
Ein Weg, den viele angehende Terroristen nehmen, ist der über die Türkei. Vom Flughafen geht es in eine der grenznahen Städte. Als Anlaufpunkt dient unter anderem ein Geschäft für Trekkingausrüstung, heißt es damals aus Sicherheitskreisen. Von dort ziehen die jungen Männer über die Grenze.
Die Ausreise nach Syrien erfolgte trotz Informationen an die türkischen Dienststellen
Auch die Ausreise von Murat D., der die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, bleibt 2013 nicht unbemerkt. In einem Geschäft für Wanderausrüstung in Herford hat er sich eingedeckt, macht ein lachend Selfie mit Rucksack nahe am Alten Markt. Wie üblich nimmt das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln Kontakt zu den türkischen Dienststellen auf und informiert sie über den Herforder.
Murat D schafft es jedoch, nach Syrien auszureisen – er schafft es später aber auch, seinen türkischen Pass zu verlängern zu lassen. Dafür musst er erneut von Syrien den Weg in die Türkei nehmen und auch wieder zurück über die Grenze.
Eine Erklärung dafür gibt es nicht – wohl aber die Vermutung, dass die Türkei die Angriffe des IS auf die Kurdengebiete in Syrien und im Irak und damit auf das Terrain der PKK und der mit ihr verbündeten Kurdenmiliz YPG wohlwollend - nach der Devise: „ Ser Feind meines Feindes ist mein Freund" - zur Kenntnis nahm und deshalb keine IS-Terroristen festsetzen wollte. Denn bis dahin hatten die Selbstmord-Attentäter die Türkei auch in Ruhe gelassen.
Die Menschen in den von IS besetzten Gebieten sind hingegen einer religösen Terrorherrschaft ausgesetzt, besonders schlimm trifft es die Jesiden. Die Männer werden getötet, Kinder und Frauen versklavt, vergewaltigt und nach Gutdünken getötet.
Mit neuem Namen und neuer Ehe im IS-Camp

Inwieweit Abu Davud Al Almani, wie sich D. bei IS inzwischen nennt, nach seiner Ausbildung in einem IS-Camp in Syrien am Hinschlachten tausender Unschuldiger im Irak und in Syrien beteiligt ist, ist nicht bekannt. Nach „NW"-Informationen war er aber per Internet mit weiteren Anhängern und Unterstützern der Salafisten verbunden und hielt Kontakt an die Werre – mutmaßlich als Werber für die Terrororganisation.
Ein Bild unter seinen Facebook-Einträge zeigt ihn nach eigenen Angaben nahe Al-Raqqa, friedlich und nachdenklich an eine Hauswand gelehnt bei einer Pause, die Kalaschnikow hält er in der Hand. Die 200.000 Einwohner-Stadt am mittleren Euphrat ist nach ihrer Eroberung durch die Terroristen so etwas die die inoffizielle Hauptstadt des IS.
Und die Terroristen-Hauptstadt mit ihren mittelalterlichen Gesetzen benötigt in ihrem selbst ernannten Reich folgsame islamistische Familien - so heiratet der 31-Jährige ganz modern über Skype. Es ist eine Ehe nach islamischem Recht, geschlossen über das Internet-Telefon-System. Braut und Bräutigam haben sich auch über das Internet kennengelernt. Die rund 15 Jahre ältere Deutsch-Türkin aus Köln mit ihrem abgeschlossenen Politik-Studium und der Schulabbrecher wirken eher ungleich.
Die Kölnerin verlässt aber ihren Ehemann, zieht mit ihrem Sohn zu Murat D., der sich zu diesem Zeitpunkt in der Türkei aufhält. Im irakischen Tal-Afar kommt das das Paar ein Haus mit Garten zugewiesen - das schiitischen Eigentümer räumen mussten. Während die Kölnerin „daheim" den Haushalt führt, verdingt sich ihr Ehemann als IS-Terrorist. 250 Dollar monatlichen Lohn bringt er damit nach Hause.
Doch große territoriale Verluste schwächen den IS immer mehr. Im Oktober 2017 wird Al-Raqqa von der Freien Syrischen Armee befreit. Bei Kämpfen nah der Stadt könnte auch der junge Mann aus Herford getötet worden sein.
Denn diesem Zeitpunkt lebt Murat D., so die Einschätzung der deutschen Sicherheitsbehörden, bereits seit rund zehn Monaten nicht mehr. Nach dem bisherigen Erkenntnissen, ist er Ende 2016 bei Kämpfen nahe Rakka, wie Al-Raqqa auch genannt wird, getötet worden. Seine Mutter soll über den Tod ihres Sohnes informiert worden sein, seine Kölner Witwe heiratet kurz darauf einen weiteren IS-Terroristen.
Murat D.s Tod wurde nie bestätigt
Ein weiteres wichtiges Indiz für den Tod des jungen Mannes aus Herford liefert überdies die kurdische Nachrichtenagentur "Hawar News Agency". Sie zeigt den von den kurdischen Einheiten nahe bei Rakka gefundenen Pass des Salafisten. Sein türkisches Reise-Dokument wurde danach am 3. September 2014 ausgestellt, – als Geburtsort ist Herford/Almanya eingetragen. Das Passbild zeigt Murat D. mit Bart und längeren Haaren.
Eine Bestätigung des Todes gibt es nicht - die türkischen Behörden halten es nach „NW"-Informationen auch nach wie vor für möglich, dass Murat D. lebt. So war ein Murat D. angeblich bei einem Grenzübertritt von iranischen Behörden festgenommen worden. Wo die Leiche des Herforders verblieben ist, ist unklar - nach der muslimischen Tradition müssen Tote aber binnen kürzester Zeit beerdigt werden.
Sollte D. doch noch leben, hätte der Dschihadist, den im Himmel 42 Jungfrauen erwarten sollen, wohl nur wenig Gründe nach Deutschland zurück zu kehren. Denn hier erwartet ihn - wie die Verurteilungen seines Freundes und seiner Ex-Frau zeigen - nur ein bundesdeutsches Gericht.