In NRW gilt Migration als "größtes Problem": Sind die Sorgen berechtigt?

Düsseldorf. Weder der Krieg in der Ukraine noch die gestiegenen Lebenshaltungskosten gehören zu den größten Problemen der Menschen in Nordrhein-Westfalen, sondern vor allem das Themengebiet "Migration und Flüchtlinge". Das geht aus einer repräsentativen Forsa-Umfrage unter Wahlberechtigten im Auftrag von landesweit 39 Zeitungstiteln hervor. Beteiligt war auch diese Redaktion. Dem Ergebnis zufolge haben sich die sogenannten Problemprioritäten zuletzt weitgehend verändert. "Wurden im Herbst letzten Jahres noch die unsichere Lage der Energieversorgung und die hohe Inflationsrate als größte Probleme in NRW gewertet, beunruhigen die Bürgerinnen und Bürger nun vor allem die Probleme, die durch die hohe Zahl von Flüchtlingen entstehen", schreiben die Studienautoren. Sorgen sich die Befragten zurecht? Der FDP-Politiker Marc Lürbke zeigt sich davon überzeugt. NRW habe zusätzlich zu den 220.000 Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine im Jahr 2022 über 42.000 sonstige Geflüchtete aufgenommen, und im ersten Halbjahr 2023 bereits rund 30.000, sagt der Landtagsabgeordnete aus Paderborn. "Die Kommunen sind mit ihren Möglichkeiten der Integration vielfach längst an ihrer Leistungsgrenze angekommen." Zur lokalen Entlastung verlangt Lürbke einen weitgehenden Ausbau der Landesunterkünfte. Nur Menschen mit einer Bleibeperspektive sollten auf die Kommunen verteilt werden. "Aktuell passiert das Gegenteil", kritisiert der FDP-Politiker: Der Anteil der Personen, die sich länger als sechs Monate in den Landeseinrichtungen aufhalten, sei "drastisch gesunken". Die zuständige Ministerin, Josefine Paul (Grüne), wolle die Wohnverpflichtung in den Landeseinrichtungen "perspektivisch sogar auf sechs Monate beschränken", sagt Lürbke. So würden Asylbewerberinnen und -bewerber schneller über das Land verteilt. "Das ist angesichts der aktuellen Herausforderungen unverantwortlich." Der Flüchtlingsrat interpretiert das Meinungsbild völlig anders Ungefähr jeder vierte Befragte hat dem "NRW-Check" zufolge den Eindruck, dass die meisten Städte und Gemeinden in Deutschland mit dem Flüchtlingszuzug zurechtkommen. Knapp drei Viertel glauben hingegen, dass die meisten Kommunen bundesweit zu schwere Lasten tragen. Der Flüchtlingsrat in NRW warnt ebenfalls davor, die Kommunen zu überfordern – interpretiert die Meinungsumfrage aber völlig anders als FDP-Politiker Lürbke. Aus Sicht der Geschäftsführerin Birgit Naujoks handelt es sich um ein Thema, das "durch Politik, kommunale Spitzenverbände und Medien problematisiert wird". Im Ergebnis könne es in der Bevölkerung gewisse Befürchtungen oder sogar Ängste hervorrufen. "Ohne Zweifel stehen sowohl Land als auch Kommunen in NRW vor großen Herausforderungen", betont Naujoks. Lokal werde das "Problem" laut Studie jedoch eher als gering eingeschätzt. Gefragt nach der Unterbringung von geflüchteten Menschen ergibt sich tatsächlich ein anderes Meinungsbild: 32 Prozent der Wahlberechtigten geben laut der Erhebung an, dass es bei ihnen vor Ort in letzter Zeit größere Probleme bei der Unterbringung gebe. "50 Prozent meinen das nicht", stellt die Forschungsgruppe fest. 18 Prozent trauten sich keine Einschätzung zu. In dieser Frage gibt es den Angaben zufolge keine Unterschiede zwischen kleineren Gemeinden und größeren Städten. "Größere Probleme mit der Flüchtlingsunterbringung bei ihnen vor Ort nehmen mehrheitlich nur die AfD-Anhänger wahr." Aus Sicht der SPD entzieht sich die schwarz-grüne Koalition ihrer Verantwortung Die FDP ruft Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) trotzdem dazu auf, sich gegenüber seinem Koalitionspartner und der zuständigen Ministerin Paul für mehr Kontrolle in der Migrations- und Integrationspolitik einzusetzen. "Dazu zählen auch konsequente Rückführungen", sagt Landtagsfraktionsvize Lürbke. "Nicht jeder, der zu uns kommt, wird bleiben können." Aus Sicht der SPD entzieht sich die schwarz-grüne Koalition ihrer Verantwortung. "Die Landesregierung enthält den Kommunen mehr als eine halbe Milliarde Euro vor, die eigentlich für die Versorgung von Flüchtlingen vorgesehen war", kritisiert Lisa-Kristin Kapteinat, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion. "Sogar das selbst gesteckte Ziel von 34.500 Plätzen in landeseigenen Einrichtungen hat Schwarz-Grün bisher verfehlt." Die Kommunen fordern 70.000 Plätze. Kapteinat findet es "nachvollziehbar, dass viele Bürgerinnen und Bürger ihre Kommunen am Leistungslimit wähnen". Auch das nordrhein-westfälische Flüchtlingsministerium zeigt sich angesichts der Bürgersorgen verständnisvoll. Dem Land sei "bewusst, dass die derzeitige Situation insbesondere für Kommunen sehr herausfordernd ist", sagt ein Sprecher. Die Unterbringungen, Versorgung und Integration der Geflüchteten sei keine einfache, aber eine "Daueraufgabe". Die Landesregierung sieht weiterhin eine hohe Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung. Dennoch fühlten sich "einige Menschen derzeit verunsichert, wenn beispielsweise eine Unterkunft für Geflüchtete bei Ihnen in der Nähe entsteht". Dies sei "verständlich, weil sich dadurch zunächst etwas in ihrem Umfeld ändert". Nordrhein-Westfalen stehe zu seiner humanitären Verantwortung, "Menschen, die bei uns Schutz suchen, aufzunehmen", heißt es weiter aus dem Haus von Ministerin Paul. "Gleichzeitig brauchen wir Migration, um unsere Wirtschaft und soziale Infrastruktur zukunftsfest aufzustellen."

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