Lieferengpässe bei Arzneimitteln: Jedes zweite Rezept in NRW betroffen

Berlin/Bielefeld. Lieferengpässe bei Medikamenten belasten Kranke sowie ihre Angehörigen, Ärzte und Apotheker seit Jahren. In den vergangenen Monaten hat sich die Lage jedoch extrem zugespitzt. Jedes zweite Rezept ist nach Angaben der beiden Apothekerverbände in NRW inzwischen vom Engpass betroffen. Auch wenn die Erkältungssaison langsam endet, ist die Liste der nicht lieferbaren Arzneimittel inzwischen auf mehr als 420 Einträge gewachsen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will das künftig verhindern. Doch sein Gesetzentwurf macht vielen im Gesundheitssystem Sorgen. Sie fürchten: Es könnte zu noch mehr Lieferengpässen kommen. Der Entwurf sieht unter anderem vor, dass die aufgrund der Pandemie gelockerten Abgaberegeln für Medikamente wieder verschärft werden. Lediglich für Mittel, die auf der Engpassliste des Bundesinstituts für Arzneimittel stehen, sollen die Lockerungen weiterhin gelten. &bdquo;Auf der Liste finden sich allerdings nur verschreibungspflichtige Arzneimittel, also beispielsweise keine Fiebersäfte für Kinder“, moniert der Vorstandsvorsitzende des Apothekerverbandes Westfalen-Lippe, Thomas Rochell. &bdquo;Zudem spiegelt diese Liste bei Weitem nicht die Wirklichkeit in den Apotheken wider.“ Hintergrund ist, dass Apotheken an strenge Abgaberegeln gebunden sind, wenn sie Patienten mit Medikamenten versorgen. So müssen sie zum Beispiel Rabattverträge berücksichtigen, die von den Krankenkassen mit Arzneimittel-Herstellern geschlossen wurden. Diese Abgaberegeln sind bis zum 7. April gelockert worden. Konkret dürfen Apotheken bei nicht-vorrätigen Arzneimitteln von Rabattverträgen abweichen und ein vorrätiges, wirkstoffgleiches Medikament abgeben, auch ohne vorherige Rücksprache mit dem Arzt. &bdquo;Ohne diese Sonderregeln hätten wir die Krise im Winter nicht stemmen können“, sagt Rochell. Nach Einschätzung des Apothekers aus Beverungen (Kreis Höxter) würde das Gesetz in der aktuellen Form deshalb die Situation nicht verbessern, sondern verschlimmern. Statt einer Regelverschärfung fordert er weiterhin Flexibilität, um die Folgen der Lieferengpässe bewältigen zu können. Nur noch ein Unternehmen stellt Paracetamol-Fiebersäfte her Rabattverträge sowie Festpreisregelungen gelten als eine der Hauptursachen für die Lieferengpässe. Krankenkassen bezahlen bei patentfreien Arzneimitteln, sogenannten Generika, die nach Ablauf des Patentschutzes des Originals produziert und angeboten werden, in der Regel nur den Preis des günstigsten Anbieters, mit dem sie einen Vertrag geschlossen haben. Hersteller von Generika beklagen jedoch seit Jahren einen steigenden Kostendruck bei zugleich strenger Preisregulierung in Deutschland, sodass sich einige Firmen aus der Produktion von Medikamenten zurückgezogen haben. Das Beispiel Fiebersaft zeigt die Problematik: Nach Angaben von Pro Generika, dem Interessenverband der Generikaunternehmen in Deutschland, haben Hersteller für eine Flasche Paracetamol-Fiebersaft 2022 1,36 Euro erhalten. Ein Betrag, der zehn Jahre lang nicht erhöht worden sei. Der Preis für den Wirkstoff Paracetamol ist 2022 laut Verband hingegen um 70 Prozent gestiegen. &bdquo;2012 gab es noch elf Anbieter von Paracetamol-Saft in Deutschland. Seit Sommer 2022 gibt es nur noch einen“, erklärt ein Sprecher. Deutschland ist abhängig von China und Indien Diese Marktverengung zeigt sich bei vielen Arzneimitteln. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft von 2022 zeigt, dass inzwischen rund 60 Prozent der in Europa verwendeten Wirkstoffe in China und Indien produziert werden. Dadurch steigt das Risiko von Lieferausfällen, wenn die Unternehmen nicht liefern können oder andere Abnehmer bevorzugen. Die Abhängigkeit Deutschlands von Ländern wie China oder Indien könnte nach Einschätzung von Pro Generika noch weiter zunehmen, wenn politisch nicht gegengesteuert wird. So zeige eine Umfrage, dass 30 Prozent der Unternehmen 10 bis 50 Prozent ihrer Arzneimittel in den nächsten zwölf Monaten aus ihrem Portfolio streichen müssen. Davon betroffen seien vor allem Wirkstoffe in Antibiotika, das Opioid Oxycodon, das Antidepressivum Venlafaxin, das Herzmedikament Ivabradin und der Blutdrucksenker Bisoprolol. Reform der Rabattverträge gilt nur für Krebsmittel und Antibiotika Die von Lauterbach angekündigte Reform der Rabattverträge soll jedoch nur für Krebsmittel und Antibiotika kommen. Aus dem Gesetzentwurf geht hervor, dass die Lieferketten diversifiziert werden sollen, indem Rabattverträge auch mit Herstellern vereinbart werden, die die Wirkstoffe fu?r diese Arzneimittel ganz oder zu einem überwiegenden Anteil in Europa herstellen. Zudem sieht der Entwurf vor, dass Krankenkassen mit Generika-Herstellern eine neue Lagerhaltungspflicht für Rabattarzneimittel aushandeln sollen. Sie soll drei Monate betragen. Laut Pro Generika machen Krebsmittel und Antibiotika jedoch nur 1,1 Prozent aller Arzneimittel aus. &bdquo;Wie erklärt die Politik einer Diabetes-Patientin, dass ihre Versorgung weniger verlässlich sein muss als die eines anderen?“, fragt Geschäftsführer Bork Bretthauer. Finanzielle Anreize für Hersteller von Kinderarzneimitteln Auch der unterschiedliche Umgang mit Medikamenten für Kinder und Erwachsene sorgt für Kritik. So sieht der Gesetzentwurf dauerhafte finanzielle Anreize für Hersteller von Kinderarzneimitteln vor. Konkret sollen die Mittel in künftigen Festbetragsgruppen nicht mehr berücksichtigt werden. Der Spardruck wird nach Einschätzung des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie demnach nur bei Kinderarzneimitteln weggenommen. &bdquo;Warum setzt man nur in einzelnen Bereichen an, wo die Probleme doch die gesamte Grundversorgung betreffen?“, fragt der Vorsitzende Hans-Georg Feldmeier.

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