Seit Ukraine-Krieg: Ist eine große Stalag-Gedenkstätte noch angemessen?

Frau Morina, auf dem Gelände des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Stalag 326 in Schloß Holte-Stukenbrock soll eine große Gedenkstätte für sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg entstehen. Inzwischen gibt es auf kommunaler Ebene Zweifel, ob das in den Zeiten des russischen Überfalls auf die Ukraine noch angemessen ist. Wie beurteilen Sie das? Ich kann nachvollziehen, dass Menschen skeptisch sind, ob es richtig ist, für eine Gedenkstätte rund 50 Millionen Euro auszugeben. Aber das jetzige Verhalten der russischen Regierung schmälert selbstverständlich in keiner Weise die Notwendigkeit für einen solchen Gedenkort. Warum nicht? Es braucht diese Gedenkstätte. Auf dem Friedhof nahe dem Lager wurden im Zweiten Weltkrieg schätzungsweise 65.000 Menschen in einem Massengrab eher verscharrt als beerdigt. Ein Massengrab in dieser Größe, dessen Vorgeschichte und Bedeutung im Kontext des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion so wenig aufgearbeitet wurde, ist einmalig in Deutschland. Das muss der Kern des Gedenkens sein. Darauf sollte man künftig den Schwerpunkt setzen. Was meinen Sie damit? Die Pläne für die Gedenkstätte Stalag wurden zuletzt sehr breit gedacht. Ich sehe die Gefahr, dass das Kernthema aus dem Blick gerät, wenn dort eine riesige internationale Gedenkstätte entsteht, die die Nachnutzung des Geländes, unter anderem durch das Sozialwerk oder die Polizei, mit der Kriegsnutzung beinahe gleichsetzt. Dieser Ort ist vor allem wichtig, um an die Verbrechen zwischen 1940 und 1945 zu erinnern. Der Fokus sollte auf den hier Ausgebeuteten und Ermordeten liegen. So wie das in der bisherigen Gedenkarbeit der Fall war, die in mühsamer und jahrzehntelanger Arbeit durch die Zivilgesellschaft vorangetrieben wurde. Werden diese Akteure ausreichend berücksichtigt? Ich wünsche mir, dass die zivilgesellschaftlichen Kräfte stärker miteinbezogen werden. Sobald sich die Politik eines Gedenkkomplexes annimmt, wirken bald deren Logiken und Interessen, zivilgesellschaftliche Gruppen gelten schnell als weniger relevant. Es ist wichtig, dass ehrenamtliche Initiativen und Vereine hinsichtlich der Zukunft der Gedenkstätte ausreichend Mitsprache erhalten. Dafür besteht jetzt noch die Chance. Viele dieser Menschen sind inzwischen alt, der Förderverein kämpft um Nachwuchs. Es ist wichtig, dieses Engagement zu erhalten und zu erneuern – zivilgesellschaftlich, aber auch politisch. Was schwebt Ihnen vor? Vielleicht tut es auch eine etwas kleinere Lösung. Es scheint, dass aktuell die Unterstützung für die 50 Millionen Euro-Variante bröckelt, die anvisierte Gedenkstätte wird mitunter als &bdquo;Raumschiff“-Idee wahrgenommen. Das liegt an der angespannten Finanzlage der Kommunen, der bisherigen örtlichen Gedenkpraxis, und natürlich ist generell zu fragen, was eine solche Großgedenkstätte mit Blick auf die regionale Gedenkstättenlandschaft auslösen würde. Ich fände ein sichtbares Zeichen des Erinnerns an die sowjetischen Kriegsgefangenen und die Opfer aus anderen Ländern, etwa in Form eines in der weiten Fläche sichtbaren Denkmals, und einen dazugehörigen Wissensort, der über das dortige Geschehen präzise aufklärt, angemessener. Sie beschäftigen sich in der historischen Forschung mit der Geschichte des Gedenkens. Beruht das deutsche Identitätsbewusstsein vor allem auf den Schrecken durch die Nazi-Zeit? Aus nationalistischer Sicht wird gern behauptet, die Deutschen würden ihre Identität nur &bdquo;negativ“ auf die NS-Zeit beschränken. Ich sehe das anders. Das Grundgesetz gibt eine klare Antwort auf die NS-Diktatur. Es hat dem Land eine gute Ordnungsgrundlage gegeben, die in der Welt als Vorbild gilt und sich vom NS-System klar abgrenzt. Deutschsein – wenn man es überhaupt definieren möchte – ist viel mehr als das Gedenken an zwei Weltkriege und Genozide. Zugleich ist das Gedenken ein essentieller Bestandteil, muss es sein, denn es gehört zum Wesenskern dieser guten Ordnung. Können Sie Beispiele nennen? Eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ist maßgeblich dadurch entstanden, dass sich vor Ort Initiativen gegründet und die Ereignisse aufgearbeitet haben, was alles andere als glatt und konfliktlos verlief. Sie haben – im Wechselspiel mit einem jahrzehntelangen politischen Reflexions- und Lernprozess – diese Demokratie besser gemacht. In diesem Sinne könnte man von einer sehr spezifischen deutschen Identität sprechen, an der es festzuhalten und weiterzuarbeiten lohnt. Leidet die deutsche Debattenkultur? Wir leben in einem sehr liberalen und pluralen Land, in dem es wenige, gut begründete Tabus gibt. Behauptungen, es gäbe Meinungstunnel und Denkverbote, halte ich für irrig. Dennoch ist die öffentliche Debatte eine hohe, schwere Kunst, die wir im Zeitalter des Digitalen und Globalen neu lernen müssen, scheint mir. Sie veranstalten am 27. Januar zum dritten Mal die Bielefelder Debatte zur Zeitgeschichte. Worum handelt es sich? Ich habe die Reihe gegründet, um Erkenntnisse und Fragen aus der Geschichtswissenschaft in die Gesellschaft zu vermitteln und andersherum auch Fragen und Perspektiven aus der Gesellschaft aufzunehmen und plural zu debattieren. Wir diskutieren diesmal über &bdquo;Die Zukunft des NS-Gedenkens: Geschichte als gesellschaftliche Selbstverständigung“ und damit einige der aktuell kontrovers diskutierten Fragen rund um die NS-Erinnerung. Unsere Gäste sind Historiker wie Ulrike Jureit und Bill Niven, aber auch der Soziologe Natan Sznaider und der Psychologe Ahmad Mansour. Wir sind derzeit ausgebucht, aber es lohnt, sich noch anzumelden, da erfahrungsgemäß immer einige Plätze frei bleiben. Und es wird eine Aufzeichnung und Publikation der Debatte geben.

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