Einblicke in den Ausnahmezustand der Kinderklinik Bethel in Bielefeld

Bielefeld. Sie sind zwischen den vielen Monitoren, Schläuchen und Decken kaum zu sehen, doch wer genau hinsieht, entdeckt in dem großen Kinderbett auf der Intensivstation der Kinderklinik Bethel zwei Mädchen, die einander zugewandt schlafen. Nur zwei Wochen nach ihrer Geburt erholen sich die Zwillingsschwestern von einer Infektion mit dem Respiratorischen Syncytial-Virus, besser bekannt als RSV, das Atemwegserkrankungen verursacht. So wie den beiden Mädchen geht es aktuell Hunderten Kindern in Deutschland, doch nicht alle können bestmöglich versorgt werden. Der Grund: Die Infektwelle belastet die Krankenhäuser derzeit so stark, dass die Versorgung schwer kranker Kinder vielerorts nicht mehr gesichert ist. &bdquo;So schlimm war es noch nie.“ Egal, wen man im Kinderzentrum Bethel nach der aktuellen Lage fragt, immer fallen diese Worte. 16 Kinder müssen intensivmedizinisch versorgt werden, doch von den 15 Betten der Intensivstation können wegen Personalmangels nur zehn belegt werden. &bdquo;Sechs Kinder müssen deshalb auf der Normalstation versorgt werden, obwohl sie auf die Intensivstation müssten“, erklärt der ärztliche Leiter der Kinder-Intensivstation, Thomas Boesing. Die Zwillingsschwestern dürfen die Klinik bald wieder verlassen. &bdquo;Doch noch atmen sie zu schnell und sind nachts noch auf eine Atemunterstützung angewiesen“, sagt Boesing. Die meisten Patienten auf der Intensivstation müssen seinen Angaben zufolge so wie seine beiden jüngsten Patientinnen in der Folge einer RSV-Infektion aufgrund von Atembeschwerden behandelt werden. &bdquo;Bei Säuglingen kommt es zu Atempausen und bei älteren Kindern zu starkem Husten, weshalb in beiden Fällen eine Atemunterstützung notwendig ist.“ Innerhalb einer Woche bessere sich der Zustand bei den meisten Patienten wieder. &bdquo;Doch insbesondere bei Frühchen und Kleinkindern mit Vorerkrankungen kann es auch deutlich länger zu Problemen kommen", erklärt der Intensivmediziner. Intensivpflegerin: &bdquo;Ich komme auch nach 25 Jahren gerne zur Arbeit" Boesing ist bereits seit 40 Jahren in der pädiatrischen Intensivmedizin tätig. &bdquo;In dieser Zeit habe ich viele starke Infektwellen erlebt, doch die aktuelle Saison ist die schlimmste, die ich je erlebt habe.“ Jeden Tag erreichen ihn Notrufe von den anderen Kinderkliniken in OWL. &bdquo;Wir sind dann zu jedem Einzellfall im Gespräch, doch auch unsere Kapazitäten sind erschöpft, denn hinzu kommen Hilferufe aus Hannover, Münster oder dem Ruhrgebiet.“ Diese ungewöhnlich hohe Zahl an Patienten trifft auf der Intensivstation auf eine Minimalbesetzung. &bdquo;An manchen Tagen fallen 50 Prozent der Mitarbeiter aus oder die gesamte Nachtschicht, weil sie selbst krank sind oder ihre Kinder“, erklärt der pflegerische Leiter der Intensivstation, Holger Beyer. In der Folge müssen Kollegen einspringen und auf freie Tage oder Urlaub verzichten. &bdquo;Wir versuchen, alles möglich zu machen, doch es fehlt überall an Personal.“ Zehn Pflegekräfte könnten laut Beyer sofort anfangen: &bdquo;Doch es gibt kaum Bewerbungen.“ Und das, obwohl das Team der Kinderklinik trotz der gewaltigen Belastungen weiterhin Erfüllung in seiner Arbeit findet. &bdquo;Unsere Tätigkeit ist sinnstiftend“, sagt Beyer. Die Freude und Hingabe bei der Arbeit bleibt auch Besuchern nicht verborgen, wenn man Mitarbeiter wie Intensivpflegerin Nadine Mertins dabei beobachtet, wie sie einen ihrer Patienten auf dem Arm nimmt, beruhigt und zwischendurch trotz des Leids auch mal zum Lachen bringen kann. &bdquo;Wir begleiten unsere Patienten von lebensrettenden Notfalleingriffen bis zur Entlassung. Diese Arbeit gibt mir etwas, weil sie so menschlich ist“, sagt Mertins. &bdquo;Ich komme auch nach 25 Jahren im Beruf immer noch gerne zur Arbeit, weil ich sie so gerne mache.“ Das kann auch Boesing bestätigen: &bdquo;Es gibt keine bessere Belohnung als ein Kinderlächeln.“ Mutter aus Oberhausen bringt schwer krankes Kind nach Bielefeld Die Eltern der jungen Patienten auf der Intensivstation sind dankbar für diesen unermüdlichen Einsatz. &bdquo;Wir fühlen uns hier sehr gut aufgehoben und immer willkommen“, sagt der Vater der Zwillingsschwestern, die sich von einer RSV-Infektion erholen. Eltern dürfen bei ihren Kindern auf der Intensivstation übernachten. &bdquo;Die Eltern sind in den meisten Fällen sehr dankbar, hilfsbereit und vor allem in Krisenzeiten wie aktuell auch wichtige Unterstützer des Teams, weil sie mithelfen“, erklärt Boesing. Doch auch Eltern trifft die Infektwelle schwer. Bundesweit müssen Kinderkliniken Patienten abweisen. Eltern sind inzwischen so verzweifelt, dass sie sich selbst auf die Suche nach einem freien Bett machen und Hunderte Kilometer weit fahren. So meldete sich in der Notaufnahme der Kinderklinik Bethel in der vergangenen Woche eine Mutter mit ihrem schwer kranken Sohn an, den sie selbst mit dem Auto von Oberhausen nach Bielefeld gebracht hatte. Und das, obwohl auch in OWL alle Kliniken überlastet sind. &bdquo;Dem Kind konnten wir zum Glück helfen, doch es darf nicht passieren, dass in einer so großen Region wie dem Ruhrgebiet kein freies Bett für ein schwer krankes Kind zur Verfügung steht“, moniert Boesing. 40 Prozent der Betten auf Kinder-Intensivstationen können nicht genutzt werden Zahlen der deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) zeigen die Notlage: Demnach können aktuell 40 Prozent der Betten auf Kinder-Intensivstationen aufgrund von Personalmangel nicht belegt werden. Seit Jahren haben pädiatrische Abteilungen nach Divi-Angaben Probleme, weil sie unterfinanziert sind und es ihnen an Pflegern und Ärzten mangelt. &bdquo;Und auf diese personell und finanziell geschwächten Häuser trifft aktuell eine Welle mit sehr vielen und schweren Atemwegsinfektionen“, erklärt der ärztliche Direktor des Kinderzentrums Bethel, Eckard Hamelmann. All das zusammen führe zu einer nie da gewesenen Überlastung der Kinderkliniken. Klinikteam fordert Ausbildungsoffensive in der Pflege Um alle Kinder bestmöglich versorgen zu können, muss die Politik laut Hamelmann eingreifen und die Kinderkliniken ausreichend finanzieren. &bdquo;Die geplante Klinikreform sieht die Übernahme von Vorhaltekosten vor. Dieser Schritt ist überfällig, denn so wie die Feuerwehr müssen auch Krankenhäuser finanziert werden, damit ausreichend Intensivkapazitäten vorhanden sind, wenn es brennt.“ Ebenso wichtig sei eine bundesweite Ausbildungsoffensive in der Pflege und eine Aufwertung des Berufs, ergänzt Hamelmann. &bdquo;Attraktiver wird die Pflege durch eine bessere Entlohnung für Schichtdienste in der Nacht, am Wochenende und an Feiertagen und einer Entlastung durch Bürokratieabbau“, sagt Intensivpfleger Beyer. Zudem sei eine Kinderbetreuung wichtig, die Mitarbeiter im Schichtdienst nutzen können. &bdquo;All das sollte selbstverständlich sein in Zeiten des Fachkräftemangels, doch das ist es nicht.“

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