Psychotherapeutin: "Bin erschrocken, wie ohnmächtig Eltern geworden sind"

Bielefeld. Die Situation von vielen Kindern und Jugendlichen in Ostwestfalen ist besorgniserregend. Psychische Erkrankungen haben durch die Pandemie stark zugenommen, Therapieplätze sind rar. Aus diesem Grund bietet der Arbeitskreis der Kinder- und Jugendlichenpsychologen KJP-OWL gemeinsam mit der "Neuen Westfälischen" ab sofort die Serie &bdquo;Familiensprechstunde“ an. Dazu der Vorsitzende Klaus Riedel: &bdquo;Wir haben in unseren Praxen und Einrichtungen eine Zunahme an Anfragen um rund 30 Prozent zu verzeichnen, die gar nicht oder nur in begrenztem Ausmaß versorgt werden können. In einigen Praxen sind die Therapieplätze und Wartelisten mehr als überfüllt und es können nur noch Erstgespräche angeboten werden, um den größten Druck zu lindern. Im Rahmen dieser Gespräche erleben wir aber immer wieder, dass Betroffene und ihre Eltern entlastet werden durch kleine Hinweise und Erklärungen zu Hintergründen oder Hilfsmöglichkeiten. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, gemeinsam mit der 'Neuen Westfälischen' diese Serie anzubieten. In den nächsten Wochen werden wir Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen vom KJP-OWL unsere Erfahrungen und Tipps zu den Themen und Erkrankungen zur Verfügung stellen, mit denen wir in den Praxen am häufigsten zu tun haben. Die Informationen ersetzen keine Therapie. Ziel ist es aber, betroffenen Familien eine Sammlung an Informationen und Hinweisen zur Entlastung und Entspannung der Situation vor Ort an die Hand zu geben.“ Im ersten Interview mit der Bielefelder Therapeutin Haike Schauf dreht es sich allerdings nur indirekt um Kinder. Vielmehr stehen hier die Eltern und ihre Erziehung im Vordergrund. Frau Schauf, Sie legen in Ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen auch einen Fokus auf Gespräche mit den Eltern. Warum? Haike Schauf: Weil Eltern oft ihre Sicherheit in der Erziehung verloren haben, das stelle ich immer wieder fest. Das Wohlbefinden der Eltern und der Frieden im System Familie sind aber wichtige Voraussetzungen für die Behandlung vieler Ängste und Störungen, über die wir bei Kindern und Jugendlichen sprechen. Darum erarbeite ich mit den Eltern eine Grundhaltung, die sie befähigt, Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, statt sie den Kindern rüberzuschieben. Nur so können Väter und Mütter überzeugt und konsequent handeln und sich in allen Lebensbereichen sicher fühlen. Aber ist Erziehung nicht etwas selbstverständliches? Genau diese Selbstverständlichkeit ist in Erziehung verloren gegangen. Eltern trauen sich nicht mehr, auf ihre Intuition zu hören, viele spüren dieses Gefühl nicht mal mehr. Stattdessen versuchen sie, sich von außen Absolution zu holen, dass sie alles richtig machen. Das hindert sie aber daran, klare Entscheidungen zu treffen und ihren Kindern damit eine sichere Begleitung und auch Führung zu geben, wo sie notwendig ist. Ich bin hier in Gesprächen manchmal wirklich erschrocken, wie ohnmächtig Eltern geworden sind. Womit hat das in Ihren Augen zu tun? Eltern sind wunderbar bei ihren Schuldgefühlen zu packen. Und Kinder sind gut darin, hier den Hebel anzusetzen, die haben eine geniale Intuition, genau da reinzustechen: "Du hast mich nicht mehr lieb." "Nie hast du Zeit für mich." Zusätzlich wird der Begriff der "bedürfnisorientierten Erziehung" in der Gesellschaft falsch ausgelegt. Viele Eltern interpretieren ihn so, dass es ausschließlich um die Bedürfnisse der Kinder gehen muss und stellen ihre eigenen Bedürfnisse hinten an, geben sich vollkommen auf. Das führt in einen Teufelskreis, der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit bei allen Beteiligten auslöst. Warum genau? Weil es einem Menschen damit nicht gut gehen kann. Dadurch verliert man sich selbst. Und so kann niemand ein guter Vater oder eine gute Mutter sein. Deshalb müssen und dürfen Väter und Mütter ihre Bedürfnisse auch vor die des Kindes stellen. Das passiert aber in vielen Fällen nicht. Stattdessen verbiegen Eltern sich in der Aufopferung für ihr Kind, vernachlässigen die Paarbeziehung, machen zum Beispiel das Ehebett zum Familienbett, klammern sich regelrecht an ihren Kindern fest. Familienbett ist vielleicht ein gutes Beispiel, weil gerade die Schlafthematik in vielen Familien einen großen Stellenwert hat. Also sollten Kinder nicht im Elternbett schlafen? Doch - wenn und so lange es den Eltern damit gut geht, sie selbst das Bedürfnis danach haben. Aber nicht, wenn zum Beispiel eine Mutter sich aufopfert, ihrem Kind durch permanenten Körperkontakt auch nachts ein wie sie meint stabiles Urvertrauen mit auf den Weg zu geben, selbst nicht mehr schläft - und sich eigentlich mit jeder Faser ihres Herzens einfach nur wünscht, das Bett für sich zu haben. Das zu spüren und liebevoll gegenüber dem Kind umzusetzen, das ist der Weg. Den trauen sich aber viele nicht zu gehen. Stattdessen sind sie Tag und Nacht ansprechbar und werden darüber gereizt und entnervt - das ist aber nicht bedürfnisorientiert . Aber bedeutet Elternsein nicht, auf die eigenen Bedürfnisse zu verzichten, damit es den Kindern gut geht? Absolut nicht! Für Kinder kann es nichts Fataleres geben, als dass ihre Bedürfnisse permanent komplett befriedigt und gestillt werden. So ein Kind ist im Grunde nicht richtig lebensfähig. Das sehen viele Eltern aber nicht. Sie definieren Liebe falsch über ständige Betüddelung, ausschließliches Nettsein, darüber, Kindern alles durchgehen zu lassen. Eltern muten Kindern nichts mehr zu, setzen keine Grenzen mehr. So lernen die Kinder aber auch keinerlei Konfliktstrategien mehr, lernen nicht, ihre Gefühle auszuhalten und zu regulieren. Sie fühlen sich nicht gehalten und geborgen. Und daraus entwickeln sich viele der Störungen und Ängste, mit denen wir heute zu tun haben bei Kindern und Jugendlichen. Das heißt, Sie arbeiten mit Eltern daran, sicherer im Umgang mit ihren Kindern zu werden? Ich arbeite in erster Linie mit Eltern daran, sicher mit sich selbst zu sein, sich wieder selbst zu spüren und daraus eine klare Haltung gegenüber ihren Kindern zu entwickeln. Und das ist eine harte Arbeit, zu der man wirklich bereit sein muss. Aber sie lohnt sich so sehr: Weil es Eltern ermöglicht, authentisch zu sein, sich so Schieflagen in der Beziehung korrigieren und Kinder anhand der Grenzen und auch der Abgrenzung mehr Halt und Sicherheit verspüren. Das klingt erstmal schräg: sich dem Kind gegenüber abgrenzen. Weil viele heute die Vorstellung von Elternschaft haben, das Ideal der totalen Verfügbarkeit zu pflegen. Viele glauben, dass sie alles für ihr Kind sein müssen, koste es, was es wolle. Dabei ist es genauso wichtig, das Kind loszulassen, es breit aufzustellen, ihm andere Bezugspersonen und Gruppen zu eröffnen, in denen es Erfahrungen machen kann. Nur so kann es selbstsicher im Leben stehen. Wie muss man sich das konkret vorstellen, so ein Elterngespräch? Ich lasse mir meist Situationen aus dem Alltag erzählen - aber immer unter der Fragestellung, womit es der Mutter oder dem Vater nicht gut geht und worunter sie oder er am meisten leidet. Viele Eltern übergehen diese eigenen Gefühle in bezug auf ihre Kinder, frei nach dem Motto: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Oft werden mir Szenarien erzählt, bei denen ich fast hintenrüber falle, Momente, in denen die berechtigte und eindeutige Reaktion der Eltern auf etwas Wut und Ärger ist - sie aber unfähig sind, diese Emotionen zu artikulieren. Und das kann nicht funktionieren. Deshalb übe ich mit den Eltern neue Handlungsmöglichkeiten, bis sie sich sicher und authentisch fühlen. Oft sind die Eltern überrascht, wie leicht das geht. Also gilt wirklich die Faustregel: Geht es den Eltern gut, geht es den Kindern gut. Grundsätzlich würde ich das so unterschreiben, ja. Nun sind die Familien, die zu Ihnen kommen können, in einer sehr privilegierten Lage, weil sie einen Therapieplatz bekommen haben. Was können Sie in Sachen Elternarbeit aus der Ferne all jenen raten, die auf Wartelisten stehen? Auf ihr Herz zu hören. Ihre Intuition zu beherzigen, das Wort an sich sagt alles. Darauf zu vertrauen, dass das Gefühl für das eigene Kind da und richtig ist - auch und gerade, wenn das bedeutet, sich abzugrenzen und dem Kind Grenzen zu setzen. Das Kind ist nicht der Feind und man ist niemals hilflos im Umgang mit ihm, wenn man die eigenen Bedürfnisse berücksichtigt und auf dieser Grundlage eine klare Haltung hat. Dann kann man auch die Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen und es dadurch tragen und halten. Dann erfülle ich die Elternrolle gern und sie fühlt sich vom Herzen her leicht an.

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