"Die Frage ist nicht, ob die nächste Pandemie kommt, sondern wann"

Berichte von Erkrankten und Todesfällen mehrten sich in den Zeitungen Ende des 19. Jahrhunderts. An der Russischen Grippe starben zwischen 1889 und 1895 weltweit rund eine Million Menschen. Die Ausbreitung erfolgte in Wellen. Auch die Symptome und Folgeerkrankungen waren denen der aktuellen Corona-Pandemie ähnlich. Aktuell mehren sich die Hinweise, dass es sich bereits damals um ein Coronavirus gehandelt haben könnte. Es war eine besonders schwere Verbreitung einer Atemwegsinfektion - aber nicht die letzte.In Erinnerung geblieben - wenn auch zumeist nur aus den Geschichtsbüchern und abgetan als Probleme der Vergangenheit - sind auch die Spanische Grippe in den Jahren 1918 bis 1920 und in jüngster Vergangenheit die Schweinegrippe, mit der sich in den Jahren 2009 und 2010 viele infizierten. Beide wurden aber im Gegensatz zur aktuellen Pandemie von einem Influenzavirus ausgelöst. Pandemien gab es also schon immer und immer wieder. Man hätte also auch auf die aktuelle vorbereitet sein können. Was kann man aus der Vergangenheit lernen und was für die Zukunft mitnehmen? Im Interview beantwortet der Bielefelder Epidemiologe Oliver Razum diese Fragen. Herr Razum, es gab immer wieder Pandemien. Hätte man vor diesem Hintergrund nicht mit einer weiteren Pandemie rechnen müssen? Für Epidemiologen ist eine Pandemie keine große Überraschung. Wir haben immer darüber diskutiert, und zwar nicht darüber, ob die nächste Pandemie kommt, sondern wann. Pandemien waren immer etwas Normales. Da wir aber wenig in andere Länder schauen, hatten wir den Eindruck, sie sind ein Problem der Vergangenheit oder von tropischen Ländern. Im Jahr 2012 gab es einen Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz, der Anfang 2013 im Deutschen Bundestag vorgestellt wurde. Darin werden Szenarien wie eine Überschwemmung, ein Kernkraftwerkunglück und auch eine Pandemie durchgespielt. Es wird eine Risikoeinschätzung basierend auf einem hypothetischen Erreger "Modi-SARS" vorgenommen, der Ähnlichkeiten mit Covid aufweist. Der erdachte Verlauf war schwerwiegender als in der aktuellen Pandemie.Warum waren wir dann so schlecht vorbereitet, wenn sowohl Wissenschaft als auch Politik wussten, dass Pandemien immer wieder vorkommen - und sogar über eine Corona-Pandemie nachgedacht wurde? Das hat vielfältige Gründe. Man hat den öffentlichen Gesundheitsdienst heruntergefahren. Es gab keine überzeugenden Kommunikationsstrategien. Man hat sich auf Lieferketten verlassen und nicht darüber nachgedacht, was passiert, wenn eine Pandemie alle Länder betrifft. Das gleiche Phänomen erleben wir derzeit wieder mit dem Krieg in der Ukraine und seinen Folgen.Was können wir von vergangenen Pandemien lernen? Es wird vermutlich wie immer sein: Wir werden uns noch ein bis zwei Jahre nach Ende der Pandemie damit beschäftigen. Dann aber wird sie in den Hintergrund geraten, weil Themen wie der Krieg oder der Klimawandel in den Vordergrund rücken. Dabei vergessen wir, dass es weitere Pandemien gibt, die zwar uns nicht mehr betreffen, aber die Menschen in weniger wohlhabenden Ländern. Wie etwa die HIV/Aids-Pandemie, die ist nicht aus der Welt. Wir haben allerdings inzwischen Möglichkeiten für die Vorbeugung und Behandlung. Betroffene, die regelmäßig Medikamente nehmen können, sind kaum noch ansteckend. Durch den Krieg in der Ukraine ist die Versorgung dort schlechter, Betroffene können krank und wieder ansteckend werden. Ansonsten sind solche Behandlungsmöglichkeiten ein großer Fortschritt. Wir verfügen zudem über diagnostische Verfahren, die es uns erlauben, Krankheiten zu erkennen, wie die Coronatests. Gegen Corona wurden schnell Impfstoffe entwickelt, die zumindest vor schweren Krankheitsverläufen schützen. Das ist nicht selbstverständlich. Gegen HIV gibt es trotz langer Forschung noch keinen wirksamen Impfstoff. Was müssen wir aus der aktuellen Situation für die nächste Pandemie mitnehmen? Eine Pandemie ist ein soziales und nicht allein ein virologisches oder statistisches Phänomen. Manche Lösungsvorschläge machen in statistischen Modellen Sinn, nicht aber in der Wirklichkeit. Dazu gehören die extremen Vorschläge, also etwa eine ungebremste Durchseuchung oder Zero Covid. Sie können nicht die Lösung sein, wie man aktuell auch am Beispiel Chinas sieht. Der Umgang mit einer Pandemie ist ein Balanceakt, ein Fahren auf Sicht. Es war daher nicht klug, zu Beginn der Pandemie weitreichende Aussagen zu treffen, wie etwa, dass es nie eine Impfpflicht geben wird. Und es war schlecht, dass Wahlkampfabwägungen zu schnellen Richtungsänderungen geführt haben. Aktuell beobachte ich eine große Diskrepanz zwischen den hohen Fallzahlen und den wenigen Maßnahmen, die es noch zum Schutz gibt. Auch wenn die Infektion mit der Omikronvariante bei Geimpften oder Genesenen in der Regel milde verlaufen, sorgt allein die hohe Zahl der Infektionen für diverse personelle Ausfälle. Es besteht außerdem immer noch die Gefahr, schwer zu erkranken oder Folgeschäden zu erleiden. Zudem besteht mit jeder Infektion ein minimales Risiko, dass eine neue Variante mit unangenehmeren Eigenschaften entsteht. Die Maske ist eine geringfügige Einschränkung, die weiterhin schützt. Ich appelliere darum, sie in der Öffentlichkeit konsequent zu tragen, um nicht nur sich selbst zu schützen, sondern auch um einen Beitrag zu einem entspannteren Miteinander zu leisten. Die bisherigen Pandemien fanden immer irgendwann ein Ende. Wie sieht es bei der aktuellen gerade aus? Wann die aktuelle Pandemie endet, ist nicht absehbar, ebensowenig, wie sie weiter verlaufen wird. Wenn sich eine weitere Virusvariante entwickelt, kann diese noch mildere Symptome mitbringen und ein Erkältungsvirus werden. Oder es entwickelt sich eine Variante, die uns schwer krank macht und gegen die der Impfschutz nicht mehr ausreichend ist. Niemand kann absehen, welches Szenario eintreten wird. Influenza- oder Coronaviren ändern schnell ihre Eigenschaften, bei der Grippe zum Beispiel jedes Jahr aufs Neue. Die Wahrscheinlichkeit, dass die nächste Pandemie wieder durch einen Virus ausgelöst wird, das von Tieren auf Menschen überspringt und die Atemwege infiziert, ist sehr hoch. Wann es aber so weit kommt, weiß keiner. Wie sollten wir uns also vorbereiten? Man kann sich nicht nur mit Schutzkleidung, Masken, Tests und dem Wissen über Ausbreitungsmechanismen auf eine Pandemie vorbereiten. Wir müssen das Thema als Gesellschaft angehen und dafür sorgen, dass es nicht zu einer weiteren Spaltung kommt. Dafür müssen wir darüber aufklären, dass Pandemien zum Alltag gehören und Schutzmaßnahmen erfordern - wie eben bei Grippe oder HIV. Ein ganz wesentlicher Punkt ist, dass der öffentliche Gesundheitsdienst gestärkt werden muss. Zudem brauchen wir Mechanismen, durch die wir zügig Krankheitsdaten verarbeiten und übermitteln können. Wenn man da spart, macht sich das schnell übel bemerkbar. Obendrein müssen wir erkennen, dass viele unserer heutigen Probleme zusammenhängen. Wenn man weiter Urwälder abholzt und Wildtiere verarbeitet, trägt das nicht nur zu einem Fortgang des Klimawandels bei, es erhöht auch das Risiko einer neuen Pandemie. So wie wir wirtschaften, steigt das Risiko einer neuen Pandemie.

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