So willkürlich ist das Vorgehen gegen Schulverweigerer

Hunderte Kinder in NRW gehen wegen der Testpflicht nicht in die Schule. Grundsätzlich gilt ihr Fehlen in vielen Fällen als entschuldigt, wird vom Land geduldet. Dies berichtete nw.de vor rund anderthalb Wochen. Daraufhin meldeten sich zahlreiche Leser. Denn dieses Vorgehen gilt scheinbar nicht für Kinder aus Risikofamilien, deren Eltern sie aus Angst um die Gesundheit aus der Schule nehmen wollen. Sie kriegen im Gegensatz zu den Testverweigerern häufig umgehend Bußgeldbescheide von der Schulaufsicht. Eine Diskrepanz, die für viel Unruhe und Kritik sorgt. Simone T. aus Wuppertal ist so ein Fall. Sie lässt ihre 15-jährige Tochter derzeit zu Hause, weil sie unter schwerem Asthma leidet. Ein entsprechendes Attest des Hausarztes liegt vor, ebenso dessen Empfehlung, das Mädchen besser aus der Schule zu nehmen, so lange die Inzidenzen so hoch sind. "Das nützt uns aber alles gar nichts", sagt Simone T. "Wir haben mittlerweile einen Bußgeldbescheid erhalten, der Schulleiter ist nicht im geringsten bereit, hier einzulenken."Für die Mutter eine vollkommen unangemessene Reaktion. "Mir ist völlig bewusst, dass dieser Zustand für meine Tochter kein dauerhafter sein kann. Sobald die Zahlen wieder runtergehen, wird sie auch wieder zur Schule gehen. Uns geht es darum, sie zeitlich begrenzt zu Hause zu lassen, um sie zu schützen." Wie willkürlich hier scheinbar die Entscheidungen der Bezirksregierungen bei der Ahndung solcher Fälle sind, zeigt ein anderes Beispiel einer Mutter, die weder Name noch Wohnort preisgeben möchte. Sie hat mehrfach versucht, die Schulleitung oder Bezirksregierung zu bewegen, ihren Sohn über Bußgeldverfahren wieder in die Schule zu bekommen. Denn seit Einführung der Testpflicht geht er nicht mehr zur Schule, hat dafür auch die Unterstützung des Vaters, der von der Mutter getrennt lebt. "Ich habe aber immer nur die Info bekommen, dass es hier keine Möglichkeiten gibt, mein Sohn fehlt ja offiziell entschuldigt." Oberverwaltungsgericht hat klar entschieden Offiziell gibt es keine generelle Vorgabe für die Entscheidung, wer entschuldigt und wer unentschuldigt fehlt. Grundsätzlich heißt es in einer Schulmail vom September 2021, dass eine Verweigerung der Schutzmaßnahmen einen Ausschluss vom Unterricht und ein Betretungsverbot für das Schulgelände bedeutet - dass dieses Fernbleiben aber kein unentschuldigtes Fehlen darstelle.Mittlerweile hat das Oberverwaltungsgericht NRW klargestellt, dass die Schulpflicht bei einer Verweigerung der Tests mit den dafür vorgesehenen Maßnahmen durchgesetzt werden kann. Zudem teilen alle fünf Bezirksregierungen des Landes mit, dass sich aus der Abwesenheit Folgen für die Leistungsbewertung ergeben. " Eine längerfristige Absenz kann immer – auch in Fällen der Verweigerung der Testungen – zur Nichtbewertbarkeit führen und damit negative Folgen für die Schullaufbahn haben", so eine Sprecherin der Bezirksregierung Detmold. Abschrecken tut das offenbar viele nicht. Zudem kommt es dennoch in hunderten Fällen eben nicht nicht zu den Strafmaßnahmen, wie die Zahl von rund 900 abwesenden Testverweigerern in NRW-Schulen im Dezember klar zeigt.Andere Situation für Kinder mit Vorerkrankungen Viele Schulleiter erfahren das im Alltag immer wieder. Die Leiterin einer Gesamtschule aus OWL zum Beispiel bemüht sich seit Monaten vergeblich, mehrere Schüler mit Unterstützung der Bezirksregierung Detmold in den Unterricht zurückzuholen, die nicht aus medizinischen Gründen fehlen, sondern die Tests verweigern. Doch für die Verhängung eines Bußgelds fehlt laut Schulaufsicht die entsprechende Vorgabe."Ich habe Verständnis für die Bemühungen des Landes, den inneren Frieden zu sichern bei so explosiven Themen", sagt sie frustriert. "Man muss aber ganz klar sagen: In dem Maße, wie hier zugelassen wird, dass Kinder dem Unterricht fernbleiben, erheben wir dieses Vorgehen zur Regel. Und damit kaufen wir uns Probleme ein, die wir langfristig nicht mehr eingefangen kriegen." Auch für die Kinder tut es der Pädagogin unendlich leid. "Was mit denen gemacht wird, ist am Ende eine Form der Kindeswohlgefährdung. Je länger die nicht zur Schule gehen, desto weniger können wir den Rückstand an Bildung und sozialer Integration auffangen." Anders gelagert ist die Situation für Kinder mit Vorerkrankungen, die zu Risikogruppen gehören. Während andere Bundesländer die Präsenzpflicht angesichts steigender Coronazahlen aufgehoben haben, gilt sie in NRW weiterhin für alle inzidenzunabhängig. Allerdings heißt es in Absatz fünf der Zweiten Verordnung zur befristeten Änderung der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen, dass Distanzunterricht aus Gründen des Infektionsschutzes erteilt werden darf. Über all das sollen die Schulen in Absprache mit den Bezirksregierungen entscheiden - "nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens", so ein Sprecher des Landes. "Kenne Familien, die das Land verlassen haben" Und viele Schulleiter entscheiden gegen die Wünsche der Eltern, weiß Thorsten Frühmark. Der Anwalt aus Rinteln hat in den vergangenen zwei Jahren hunderte Familien beraten, die versuchen, ihre Kinder aus Infektionsschutzgründen zu Hause zu behalten. "Es gibt da eine große Willkür und man muss klar sagen, dass NRW in dieser Angelegenheit auch das bissigste Bundesland ist", sagt der Experte für Familienrecht.Er kennt die ganze Palette, die in diesem Konflikt möglich ist, vertritt auch den derzeit wohl bekanntesten Fall einer Kölner Familie, die angekündigt hat, sich notfalls eher in Haft zu begeben, als ihr Kind zur Schule zu schicken. "Das ist natürlich ein Extremfall. Es gibt Familien, die hangeln sich so durch, schicken das Kind immer mal wieder, erreichen befristete Aufhebungen der Präsenz, halten hin, taktieren. Dann gibt es viele Familien, die einknicken angesichts der hohen Bußgelder. Ich kenne aber auch welche, die das Land verlassen haben, weil die Situation für sie nicht hinnehmbar war." In Frühmarks Augen ist die ganze Situation ein Unding. "Ich bin nicht dafür, Schulen zu schließen. Aber in meinen Augen haben Kinder und ihre Familien in dieser Pandemie das Recht auf die gleichen Sicherheitsstandards in Schule wie sie für alle anderen auch gelten. Und wenn diese Standards nicht gegeben sind und die Inzidenzen in die Höhe schnellen, müssen Eltern auch berechtigt sein, die Kinder aus dem Präsenzbetrieb rauszunehmen." Keine Übersicht über Ahndungen Auch Martina Reiske sieht die Problematik. Sie ist Schulleiterin in Bielefeld und Vorstandsmitglied in der Schulleitervereinigung NRW. "Es ist ein großes Problem, dass wir keine Klarheit haben, wie wir in diesen Fällen verfahren sollen. Für mich ist zum Beispiel in Ordnung, dass ein Kind, dessen Eltern begründete und attestierte Bedenken wegen einer Vorerkrankung haben, eine Zeit lang auch in Distanzunterricht gehen darf. Eine Fehlen aufgrund einer Testverweigerung würde ich aber immer zur Anzeige bringen - auch, wenn das keine Aussicht auf Erfolg hat. Andere Kollegen machen es vielleicht anders. Eine Vorgabe oder einen klaren Handlungsleitfaden haben wir nicht." Was es auch nicht gibt, ist eine Übersicht darüber, welche Schulversäumnisse wie geahndet werden. Denn die Bezirksregierungen erfassen zwar die Zahl der Schulpflichtsverletzungen - nicht aber die Gründe dafür. Deshalb ist es auch nicht möglich, zu recherchieren, ob das Fernbleiben aufgrund von Testverweigerung überhaupt geahndet wurde in den vergangenen Monaten.Auf Anfrage teilt zum Beispiel die Bezirksregierung Düsseldorf mit: "Im vergangenen Kalenderjahr 2021 wurden im Regierungsbezirk Düsseldorf circa 1.800 Schulpflichtverletzungsverfahren eingeleitet und davon circa 1.640 Verfahren mit einem Bußgeld geahndet. Eine weitere Aufschlüsselung der Verfahren nach Gründen wird nicht vorgenommen."Es gibt drei Möglichkeiten Zudem sind Schulen nicht verpflichtet, regelmäßiges Fernbleiben von Schülern an die Bezirksregierungen zu melden. So heißt es von der Bezirksregierung Düsseldorf weiter: "Wenn der Schulbesuch dennoch nicht regelmäßig erfolgt, kann die Schulleitung mithilfe einer Versäumnisanzeige dies der Bezirksregierung mitteilen. Ob Zeiten der Nichtteilnahme am Präsenzunterricht wegen Testverweigerung und/oder Weigerung, eine Mund-Nasen-Maske zu tragen, als Schulpflichtverletzung zu behandeln sind, ist jeweils anhand der Umstände des Einzelfalls zu bewerten." Genaugenommen gibt es damit drei Möglichkeiten, wie Familien, die zu Risikogruppen gehören, sich derzeit schützen können. Sie können ihre Kinder zeitlich befristet von der Präsenzpflicht befreien - keine Lösung für viele, da die meisten Risikoerkrankungen chronisch sind."Somit", schreibt eine Mutter, die selbst betroffen ist, "bleibt nur die Möglichkeit, sich dem Risiko einer Ansteckung auszusetzen, die Präsenzpflicht aus Infektionsschutzgründen zu verweigern und Bußgelder zu erhalten oder der Testpflicht zu widersprechen. Dann kann man sich legal schützen, bekommt auch (Unterrichts)-Material, aber hat den Nachteil, dass die Kinder dann keine Leistungsbewertung erhalten. Meinem Sohn wird gerade deswegen trotz guter Noten der Übergang auf eine weiterführende Schule verwehrt."

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