Nach Vorfällen in NRW: Von wem geht der Antisemitismus eigentlich aus?

Bielefeld. Mit Fahnen der Türkei, Tunesiens und Palästinas rufen mehr als hundert Demonstranten antisemitische Parolen vor einer Synagoge in Gelsenkirchen. Es sind erschreckende Filmaufnahmen, die nach dem eskalierten Konflikt zwischen Gaza und Israel in sozialen Medien kursieren. Ein Vorfall von Hunderten - unabhängig von der Nah-Ost-Situation und der Ideologie. Es stellt sich die Frage: Von wem ging der Antisemitismus in den vergangenen Jahren aus? Die Terror-Miliz Hamas hat Tausende Raketen auf Ziele in Israel abgefeuert, es gab mehrere Tote. Als Reaktion griff die israelische Armee Ziele in Gaza an - auch hier kam es zu mehreren Toten. Es ist ein Konflikt, der seit vielen Jahren herrscht und weltweit für Aufsehen sorgt. Auch in Deutschland. Video zeigt antisemitische Parolen Kritik an der Politik Israels ist keineswegs verboten; nicht in einer Demokratie wie Deutschland (siehe Infokasten). Nur werden darunter getarnt nicht selten antisemitische Stereotype verbreitet oder gar zur Gewalt aufgerufen: In Münster wurde eine israelische Fahne verbrannt, ebenso in Bonn. In Düsseldorf soll eine Gedenkstätte attackiert worden sein. In Solingen wurde eine am Rathaus gehisste Israel-Flagge verbrannt. In Gelsenkirchen kam es bei besagter Demonstration zu antisemitischen Äußerungen, festgehalten auf Video. Judenhass mitten in #Gelsenkirchen vor der #Synagoge. Zeiten, in denen Juden auf offener Straße beschimpft werden, sollten längst überwunden sein. Das ist purer #Antisemitismus, sonst nichts! pic.twitter.com/S98Puxl07N Zentralrat der Juden in Deutschland (@ZentralratJuden) May 12, 2021Nach Erkenntnissen des NRW-Innenministerium handelt es sich um ein gemischtes Täterspektrum. "Das sind nicht nur palästinensische Gruppen", sagte Innenminister Herbert Reul (CDU) dem Radiosender WDR 5. Zwar seien die Fälle noch nicht zu 100 Prozent ermittelt, es gehe aber insgesamt um Menschen aus dem arabischen Raum. Aus Syrien etwa und im Fall eines Verdächtigen aus Gelsenkirchen um einen Deutsch-Libanesen. "Da mischt sich unheimlich viel zusammen." Reul bezeichnete es als "erschreckend, nicht akzeptabel, unerträglich, wenn auf deutschem Boden antisemitische Parolen skandiert werden". Straftaten vor allem von Rechten Doch woher kommt der Antisemitismus aktuell genau? Ein Blick auf die Straftaten im vergangenen Jahr zeigt ein deutliches Bild. 2020 hat es bundesweit 2.322 antisemitische Straftaten erfasst - die meisten fallen in die Kategorie Volksverhetzung. Und: Nahezu alle Straftaten werden der politisch rechts motivierten Kriminalität zugeordnet. In NRW sieht es ähnlich aus: Von insgesamt 276 antisemitischen Straftaten im vergangenen Jahr fallen 256 in die Kategorie "Rechts". Erfasst werden hier jedoch nur die strafrechtlich relevanten Fälle - Antisemitismus kann auch in anderen Formen stattfinden, zum Beispiel durch Codes. Studien gehen zudem davon aus, dass es eine deutlich höhere Dunkelziffer an antisemitischen Straftaten gibt, die jedoch nicht zur Anzeige gebracht werden. Andere Studien zeigen allerdings auch: Antisemitismus ist kein Problem ausschließlich von Rechts. So kommt eine Befragung der Uni Bielefeld zu dem Ergebnis, dass von antisemitischen Übergriffen betroffene Personen angeben, von einer muslimischen Person angegangen worden zu sein. Doch auch von Betroffenen als linksextrem kategorisierte Täter nehmen keinen kleinen Teil ein. "Antisemitismus gibt es in allen Gruppen und Schichten" Abraham Lehrer, Vizepräsident beim Zentralrat der Juden in Deutschland, betont: "Wir verbinden mit Antisemitismus vor allem das rechte Spektrum. Aber es gibt ihn auch unter Linken oder arabischstämmigen Menschen." Man müsse sich generell im Klaren sein, dass es "Antisemitismus in allen Gruppen und Schichten gibt". Eine Studie zum Antisemitismus in NRW kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass im Bundesland kriegerische Auseinandersetzungen im Nahen-Osten eine unmittelbare Auswirkung auf das antisemitische Fallaufkommen zeigen. Ein Beispiel hierfür ist das Jahr 2014, als der Konflikt zwischen Gaza und Israel schon einmal eskalierte und es zu einer Vielzahl antisemitischer Taten kam. Und: Viele der befragten Betroffenen von Antisemitismus stufen bezogen auf den politischen oder religiösen Hintergrund der Täter neben dem Rechtsextremismus auch islamischen und/oder islamistischen Antisemitismus als sehr relevant ein. "Größte Bedrohung" Die Anitsemitismusbeauftrage von NRW, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, sagt gegenüber nw.de: "In den Kriminalitätsstatistiken ist der Antisemitismus aus dem rechtsextremen Umfeld nach wie vor die größte Bedrohung." Aus Studien und Erhebungen wisse man aber auch, dass der Anteil antisemitischer Vorfälle im sogenannten Dunkelfeld riesig sei. "Beschimpfungen, Schmähungen und Übergriffe werden in der Polizeistatistik kaum oder gar nicht erfasst, prägen aber den Alltag vieler Jüdinnen und Juden in unserem Land." Der Israelbezogene Antisemitismus sei dabei "eine markante Erscheinungsform des Antisemitismus, die gerade aktuell lautstark und gewalttätig auftritt". Antisemitismus lasse sich nicht an einer Bevölkerungsgruppe besonders fest machen. "In ihrer Einstellung sind Antisemiten gleich, egal ob bekennende Linksextreme, Neonazis, Islamisten und Nationalisten." Teilweise seien sogar Überschneidungen der Gruppen bei den Vorfällen feststellbar. Als Beispiel nennt sie die rechtsextreme türkische Bewegung der "Graue Wölfen". "Daher muss sich dem auch breit aus der Gesellschaft an allen Orten entgegengestellt werden", so Leutheusser-Schnarrenberger. In NRW werden die antisemitischen Vorfälle auch zum Politikum. Die FDP und die CDU haben am kommenden Donnerstag eine Sondersitung des Innenausschusses beantragt, um die Fälle aufzuarbeiten. Dazu erklärt der stellvertretende Vorsitzende und innenpolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Marc Lürbke: "Die Bilder und Nachrichten aus Gelsenkirchen, Münster, Bonn, Solingen und Düsseldorf sind mehr als bedrückend und wir verurteilen sie scharf. Es ist unerträglich, dass in NRW Antisemitismus hemmungslos zur Schau getragen und jüdische Einrichtungen und Menschen bedroht und angegriffen werden."

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