Warum junge Männer zu Regelbrechern und Verlierern der Krise werden

Berlin. Feierwütige Jugendliche, die auf die coronabedingten Restriktionen pfeifen und keine Rücksicht nehmen. Dieses Bild von jungen Menschen in der Pandemie steht für viele exemplarisch dafür, warum sich das Infektionsgeschehen in Deutschland nach wie vor nicht entspannt. Doch stimmt das auch? Nein, zeigt die neue Studie &bdquo;Junge Deutsche 2021" der Jugendforscher Klaus Hurrelmann und Simon Schnetzer. Die meisten Jugendlichen akzeptieren die Restriktionen. Die repräsentative Untersuchung zeigt aber auch, dass sich eine kleine Gruppe querstellt – junge Männer. Damit offenbart sich nach Einschätzung Hurrelmanns in der Pandemie ein Problem, vor dem die Gesellschaft lange die Augen verschlossen hat – das Abhängen von Jungen in der Schule. Regeltreue weit verbreitet&bdquo;Obwohl das Coronavirus Jugendliche deutlich weniger gefährdet als Erwachsene, befürworten 73 Prozent von ihnen die Einschränkungen. Und das, obwohl Jugendliche so stark wie keine andere Altersgruppe in ihrem normalen Verhalten eingeschränkt wird", erklärt Hurrelmann. &bdquo;Sie verzichten auf Partys, Sport und Treffen mit Freunden. Sie stehen unter ständiger Beobachtung ihrer Eltern und haben nur noch ihr Zimmer und das Internet, um sich zurückzuziehen." Das Bedürfnis, sich von den Eltern zu lösen, sich als Persönlichkeit zu entfalten und Freiheiten auszuschöpfen, können Jugendliche so kaum noch ausleben. &bdquo;Trotzdem halten sie sich überwiegend an die Regeln und übernehmen damit Verantwortung für ihre Familien und zeigen sich solidarisch mit der Gesellschaft", sagt Hurrelmann, der nach langer Tätigkeit als Professor an der Universität Bielefeld an der Hertie School of Governance in Berlin lehrt. Regelbrecher in der MinderheitDer großen Mehrheit steht jedoch eine Gruppe gegenüber, die deutlich weniger verantwortungsbewusst ist. &bdquo;Bei ihnen handelt es sich überwiegend um junge Männer", erklärt Hurrelmann. Tendenziell haben sie ein niedriges Bildungsniveau und stammen aus schwierigen Familienverhältnissen. Überrascht ist Hurrelmann von diesem Ergebnis nicht. &bdquo;Viele andere Studien zeigten bereits, dass junge Männer grundsätzlich ein größeres Problem damit haben, sich an Regeln zu halten, weil sie stärker unter der Einschränkung ihres Aktionsradius leiden als junge Frauen." Das liegt nach Einschätzung des Jugendforschers vor allem daran, dass junge Männer einen großen Drang haben, sich zu beweisen und ihre Kraft zu demonstrieren. &bdquo;Solche Verhaltensweisen haben junge Frauen nicht so nötig." FamilienverhältnisseAuch die Familienverhältnisse spielen hier eine wichtige Rolle, sagt Hurrelmann. &bdquo;Haben junge Männer das Gefühl, dass sie oder ihre Eltern aufgrund einer schlechten wirtschaftlichen Situation als Außenseiter gelten, drückt das massiv auf ihr Selbstwertgefühl." Das gelte auch für Misserfolge in der Schule oder anderen Lebensbereichen. &bdquo;Junge Männer schreiben die Schuld daran häufig anderen zu und suchen einen Sündenbock." Während junge Männer in solchen Fällen nach Erfahrung Hurrelmanns von Diskriminierung sprechen und darauf mitunter gewalttätig reagieren, haben junge Frauen bereits durch diverse Formen der Benachteiligung gelernt, besser damit umzugehen. Die Schulschließungen während der Krise verschärfen laut Hurrelmann deshalb nicht nur die Bildungsungleichheit entlang der sozialen Herkunft. &bdquo;Es entsteht auch ein Gefälle der Geschlechter. Da sind erheblich mehr Jungen als Mädchen betroffen." Vor allem Jungen aus den bildungsfernen Elternhäusern benötigen Alltagsstruktur, Anregung von außen und Aktivitätsmöglichkeiten. &bdquo;Wir müssen damit rechnen, dass vor allem diese jungen Männer während der Krise zu den Verlierern im Bildungsbereich gehören." BildungsgradWeitere Gründe für Regelbrüche lassen sich laut Hurrelmann im Bildungsgrad finden. &bdquo;Ein niedriges Bildungsniveau hat auch Einfluss auf die Fähigkeiten Disziplin, Selbststeuerung und die Reflexion des eigenen Verhaltens." Da junge Frauen gebildeter sind, verfügen sie laut Hurrelmann auch häufiger über diese wichtigen Fähigkeiten. &bdquo;Das alles sorgt dafür, dass junge Frauen grundsätzlich besser mit Krisen umgehen können." Fehlverhalten in der SchuleDie Regelbrüche in der Pandemie durch junge Männer lassen sich nach Einschätzung Hurrelmanns mit Fehlverhalten in der Schule vergleichen. &bdquo;Wie in der Pandemie stellen auch in der Schule aus Sicht der Jugendlichen elitäre Erwachsene die Regeln auf, ohne das sie mit einbezogen werden", sagt Hurrelmann. Bei Regelbrechern in der Schule handle es sich ebenfalls häufig um junge Männer. &bdquo;Die Pandemie legt offen, was schon seit Jahrzehnten existiert: Jungen fallen in der Schule hinter Mädchen zurück." Seit Jahren manifestiert sich der Trend, dass Mädchen bessere Schulabschlüsse ablegen und Jungen die Schule häufiger ohne Abschluss verlassen. Die Tendenz, dass Mädchen sich kontinuierlich verbessern, lasse sich bereits seit 1980 beobachten. &bdquo;Sie halten nicht nur in den Standardbereichen Lesen, Schreiben, Fremdsprachen und Kommunikation ihre Position, sondern holen auch in Mathematik kräftig auf. Während die jungen Männer im gleichen Zeitraum die Leistungen nicht verbessert haben." Mädchen haben laut Hurrelmann jedoch nicht nur in der Schule die Nase vorn. &bdquo;Sie sind auch in der sozialen Beziehungsgestaltung selbstbewusster, ziehen früher zuhause aus und haben eine klare Wertorientierung. Sie wissen, was sie wollen und nutzen Chancen." Junge Männer haben hingegen Probleme ihre Rolle in der Gesellschaft zu finden. ForderungenUm diese Bildungsungleichheit und die damit verbundenen negativen Folgen für die Gesellschaft zu vermeiden, fordert Hurrelmann eine gezielte Förderung von Jungen. &bdquo;Das das funktioniert, beweisen die Erfolge der gezielten Mädchenförderung ab den 1960er-Jahren. Denn genetisch lassen sich die Unterschiede nicht erklären. Kein Geschlecht ist intelligenter als das andere", sagt Hurrelmann. &bdquo;Bei der Förderung eines benachteiligten Geschlechts wird jedoch übersehen, dass im Bildungsbereich für die Jungen immer weniger Platz ist. Wir dachten, die sind stark, die setzen sich durch. Aber sie haben es nicht geschafft." Gezielte Jungenförderung bedeutet laut Hurrelmann, dass sie in den tendenziell schwächeren Bereichen Lesen, Schreiben, Kommunikation und Fremdsprachen stärker gefördert werden. Zudem müsse ihrem Drang nach körperlicher Orientierung mehr Raum gegeben werden. Auch der häufig praktizierte weiche Umgangsstil komme Jungen nicht entgegen. &bdquo;Sie brauchen eher klare Ansagen und Strukturen mit eindeutigen Reaktionen und Sanktionen." Da Jungen im Vergleich zu Mädchen laut Hurrelmann häufig Probleme damit haben, ihre Rolle in der Gesellschaft zu finden, sind männliche Erzieher und Lehrer von großer Bedeutung. &bdquo;Die sind aber vor allem in Kitas und Grundschulen eine Rarität. Jungen lernen aber erst durch Vorbilder, dass auch Männern mittlerweile sehr viel mehr Rollen als die des Ernährers zur Verfügung stehen."

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