NSU-Opferanwalt: "Unsere Polizei hat eine rassistische Brille auf"

Detmold. Zwischen 2000 und 2006 werden in Deutschland neun Menschen mit Migrationshintergrund von der rechtsextremen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) ermordet. Dr. Mehmet Daimagüler hat seinerzeit zahlreiche Opferangehörige vor Gericht vertreten. Noch heute setzt er sich für die Aufklärung dieser Morde und gegen strukturellen Rassismus ein. Am Freitag, 23. Oktober, stellt er um 19 Uhr sein Buch &bdquo;Empörung reicht nicht!" im Lippischen Landesmuseum in Detmold vor. Vorab sprach er mit der Lippischen Landes-Zeitung über Drohbriefe und die Dringlichkeit, die Demokratie zu bewahren. Herr Daimagüler, in Ihrem Buch stellen Sie fest, dass der deutsche Staat versagt hat. Warum hat er das?Dr. Mehmet Daimagüler: Es gibt drei Aspekte. Erstens haben die Verfassungsschutzbehörden über Jahre hinweg am Aufbau von Neonazi-Strukturen mitgewirkt. Zweitens hätten die NSU-Morde viel eher aufgeklärt oder sogar verhindert werden können, wenn die Polizeibehörden unvoreingenommen ermittelt hätten. Stattdessen wurde mit einer rassistischen Brille vorgegangen. Vielen Spuren und Hinweisen ist man nicht nachgegangen. Drittens wurde nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 volle Aufklärung von der Regierung versprochen. Dieses Versprechen wurde bis heute nicht umgesetzt. Rechtsextremismus ist eine Gefahr für die Demokratie. Ist der Staat gegen diese Gefahr von innen also nicht gewappnet?Daimagüler: Erst nach der Ermordung des Politikers Walter Lübcke, der auf der Todesliste des NSU stand, findet ein langsames Umdenken statt. Es gibt positive Zeichen. Die Bundesanwaltschaft hat Anklagen gegen fremdenfeindliche Gruppierungen vorgelegt, nimmt die Reichsbürger stärker ins Visier. Das ist aber immer noch zu wenig. Es wird noch immer so getan, als sei Rechtsradikalismus ein Problem für Migranten. Doch es ist ein Problem für die demokratische Gesellschaft insgesamt. Rechtsextremisten sind gefährlich für die Demokratie insgesamt. Anwalt erhält Drohmails von NSU 2.0 Sie waren Opferanwalt im NSU-Prozess, jetzt bekommen Sie vom selbst ernannten NSU 2.0 Drohbriefe. Was macht das mit Ihnen?Daimagüler: Seit der Übernahme des Mandats vor neun Jahren habe ich ungefähr 1500 Briefe bekommen, die beleidigend oder bedrohend waren. Ich habe festgestellt, dass es meine Seele vergiftet. Ich bin wütend, reizbar, misstrauisch. Ich halte mir aber stets vor Augen, dass ich nur eine Projektionsfläche für die Frustration anderer bin. Für meine Kollegin und Freundin Seda Basay-Yildiz, die einen Brief bekommen hat, worin der Mord des eigenen Kindes angekündigt wird, ist das eine ganz andere Nummer. Ich habe diese Problematik nicht. Deshalb versetzen mich diese Drohungen nicht in Angst, machen mich aber auch nicht zu einem besseren Menschen. Gibt es auch bestärkende Worte?Daimagüler: Ja, ich bekomme auch unterstützende Briefe und ich weiß, dass viele Personen, die in der Öffentlichkeit für etwas stehen, angefeindet werden. Der Staat muss sich hinter diese Menschen stellen. Wir dürfen sie nicht allein lassen. Die Ermittlungen kommen hier, ähnlich wie damals beim NSU-Prozess, nicht richtig voran. Will der Sicherheitsapparat nicht in die eigenen Abgründe schauen?Daimagüler: Nein, das will er nicht. Sie schauen nicht in den Abgrund, weil sie Angst haben, dass der Abgrund zurückblicken könnte. Jedes Mal, wenn es einen rechtsradikalen Vorfall in den Reihen der Polizei gab, wurde von einem Einzelfall gesprochen. Wir haben einen Innenminister, der sich weigert, sich diesem Problem zu stellen. Wir brauchen dringend Rassismus-Studien in allen staatlichen Organen. Corpsgeist bei der Polizei Wo Sie es gerade ansprechen: 100 Verdachtsfälle von Rechtsextremismus wurden seit 2017 bei der Polizei NRW gemeldet. Jüngst sind die rechtsextremen Chats in Essen aufgeflogen. Überrascht Sie das?Daimagüler: Natürlich nicht. Wir wissen doch seit langer Zeit, dass der Polizeidienst wie ein Magnet auf die Personen wirkt, die nicht in den Polizeidienst gehören. Da wurde über Jahre hinweg ein Corpsgeist gepflegt, der es den anständigen Beamten unmöglich machte, sich an jemanden zu wenden. Wenn ich sehe, dass in Essen die Extremismusbeauftragte die Ehefrau des Polizeipräsidenten ist, da frage ich mich, geht’s noch? Das ist doch absurd. Besorgt haben wir nach Amerika geschaut, als George Floyd von einem Polizisten umgebracht wurde. Sollte diese Sorge eher Deutschland selbst gelten?Daimagüler: Wenn wir nach Amerika schauen, sehen wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Die Polizei in Amerika ist hoch militarisiert, anders als in Deutschland. Allerdings gibt es dort Rassismus sowie bei uns. Dieser ist häufig institutioneller Natur, wie bei uns auch. Ich würde mir wünschen, dass diejenigen, die über den Fremdenhass in Amerika sprechen, auch einen Blick ins eigene Land werfen. Zu glauben, dass wir es hier mit einem neutralen Polizeiapparat zu tun haben, das ist doch albern. Sie appellieren an die Gesellschaft, die Demokratie gegen Hass und Rechtsextremismus zu verteidigen. Was kann jeder einzelne dafür tun?Daimagüler: Überlegen Sie nicht, wie Sie etwas gegen Rassismus, sondern für die Demokratie tun können. Gehen Sie wählen, engagieren Sie sich. Das muss nicht in Menschenrechtsorganisationen sein, sondern fängt im Sportverein an. Wenn eine Demo stattfindet, auf der man Flagge zeigen kann, zeigen Sie Flagge. Ich weiß, es gehört viel Mut dazu, auf eine Demo zu ziehen. Aber ich sage Ihnen, noch viel mehr Mut gehört dazu, wenn man sich im eigenen Familien- und Freundeskreis positioniert und beim nächsten Geburtstag deutlich macht, dass antisemitische Witze nicht in Ordnung sind. Mischen Sie sich ein, wenn in der Gesellschaft jemand ungerecht behandelt wird. In einer Demokratie zu leben ist ein Privileg, aber auch eine Verpflichtung.

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